Großbulgarisches Reich
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Das Großbulgarische Reich war das Reich der turkstämmigen[1] Protobulgaren (auch als Hunno-Bulgaren bezeichnet) in Südrussland und dem Nordkaukasus. Im Gegensatz zu den späteren bulgarischen Großreichen (1., 2. und 3. Bulgarenreich) erstreckte es sich nicht auf die Balkanhalbinsel, sondern lag nördlich des Schwarzen Meeres.
Die vom 7. bis zum 13. Jahrhundert ebenfalls in Russland ansässigen Wolgabulgaren waren der an der Wolga verbliebene Teil der Protobulgaren nach der Zerschlagung des Großbulgarischen Reiches.
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[Bearbeiten] Einordnung als Turkvolk
Sie waren überwiegend als ein Turkvolk anzusehen, das aus den Resten der Hunnen, verwandten turkstämmigen Volkssgruppen entstanden ist. Nach überwiegender Auffassung sollen die Wolgabulgaren aus den Stämmen der Onoguren entstanden sein, zu denen sich noch andere turkstämmige Völkerschaften, wie Sabiren und die Vorfahren der Chasaren, freiwillig anschlossen bzw. von ihnen unterworfen wurden. Sie sprachen zu jener Zeit eine der sogenannten ogurischen Sprachen, waren also als Oguren aufzufassen. Ihr ethnisches Gepräge änderte sich jedoch, als sie weitere Völkerschaften unterwarfen, wie z. B. Slawen und Finno-Ugren. Als Alternativbezeichnung für die Wolgabulgaren liegt uns auch aus der überwiegend turkvölkischen Turkologie Törk Bolğar (tatarisch), Turk Bolğar bzw. Türk Bulğar vor. Diese Bezeichnung stammt vom alttürkischen Türük-Bolqar/Turuk-Bulkha ab und hatte die Bedeutung: „vermischte Turuk“. Das weist eindeutig darauf hin, dass schon die Vorfahren der Wolgabulgaren ein ausgesprochenes Mischvolk darstellten. Doch heute wird „Türük-Bolqar“ vielfach mit Türk-Bulgaren oder Turk-Bulgaren übersetzt. Dieses hat zwar eine gewisse Berechtigung, doch diese Übersetzung kam erst im Zuge des Panturkismus des 19. Jahrhunderts bei den Tataren Russlands auf.
Die Hunnen waren 454 aus Ungarn in die Schwarzmeer-Steppe (Altyn Oba Horde) abgezogen. Dabei standen sie unter der Herrschaft von zwei Familien-Klans (Kutriguren und Utriguren), die ihre Herkunft auf Attila und dessen Söhne zurückführten. Um 558-60 lösten sie sich im inneren Streit auf und wurden von den Awaren besiegt, die aber weiterzogen. Die besiegten Reste der Hunnen vermischten sich allmählich mit bereits benachbarten wie auch neu ankommenden türkischen und ersten slawischen Stammesgruppen, so dass sich das Volk der Protobulgaren bildete.
- Siehe Hauptartikel Protobulgaren
[Bearbeiten] Großbulgarisches Reich
Ende des 6. Jahrhunderts bildeten sie unter Orchan das so genannte Großbulgarische Reich im Bereich der Flüsse Don und Wolga mit der Hauptstadt Phanagoria, das im Westen von Awaren und im Osten von den Westtürken Tardus bevormundet wurde. Orchan hatte als Onogur-Hunne noch einen traditionell „geschorenen Kopf“, wird jedoch heute als der erste Fürst jener „Protobulgaren“ betrachtet. (Der geschorene Kopf symbolisierte bei den frühen Steppenvölkern ursprünglich nur einen einfachen Krieger, denn nur der Stammesfürst besaß das Recht, sein Haupthaar lang zu tragen!)
Sein Nachfolger war sein Neffe Kubrat Dulo, zu dessen Zeit (ca. 626) der Druck der Chasaren zunahm, die sich mit dem Tod des Khan Tung Sche-hu 630 (Ziebil?) langsam von den Westtürken ablösten. Kubrat hielt sich in seiner Jugend einige Zeit als Geisel oder Gast in Konstantinopel auf, so dass ihm gern byzantinische, zivilisierte Sitten nachgesagt werden. Zumindest galt er als "Freund" des damaligen byzantinischen Kaisers und trat um 619 eventuell zum Christentum über.
[Bearbeiten] Aufspaltung
Mit dem Tod von Kubrat Khagan (668) aus der Dulo-Dynastie zerstreuten sich seine fünf Söhne, um den Chasaren auszuweichen.
[Bearbeiten] Schwarze Bulgaren
Ein Teil unter Kubrats ältestem Sohn Khan Batbajan (bzw. Vatbajan) blieb an der Wolga und unterwarf sich den Chasaren. Seine Gruppe, die „Schwarzen Bulgaren“ (Khara Bulkhar/Qara Bolqar) wurden noch eine Weile in russischen Inschriften erwähnt und verschwanden dann aus der Geschichte.
[Bearbeiten] Weiße Bulgaren (Wolgabulgaren)
Ein Teil unter dem zweitältesten Sohn Khan Kotrag wanderte nach Norden und gründete in der Folge am Zusammenfluss von Wolga und Kama das Reich der „Weißen Bulgaren“ (Akh Bulkhar/Aq Bolqar) mit der Hauptstadt Bolgar, den eigentlichen Wolgabulgaren, das zunächst noch von den Chasaren abhängig war.
Wolgabulgarien nahm unter Khan Alamusch (Almush, Almas, Almış reg. 895-925) um 922 den Islam an (vgl. Ibn Fadlan) und entwickelte sich bald zu einer bedeutenden Handelsmacht, die insbesondere den Fernhandel (Luxusprodukte) zwischen der Kiewer Rus und den islamischen Ländern im Süden vermittelte. Diplomatische Beziehungen reichten unter Ibrahim (reg. 1006-1025) um 1024 bis Chorasan. Man betrieb in dem dicht besiedelten Land erfolgreich Ackerbau und gründete mehrere Städte wie Bolgar (beim heutigen Kasan), die Moscheen, Karawansereien und öffentliche Bauten besaßen. Zahlreiche Dörfer und kleine Festungen werden verzeichnet.
Schon im 12. Jahrhundert kam es zu mehreren militärischen Konflikten mit russischen Fürsten, die den Bestand des Staates bedrohten. Im Jahr 1236 wurde das Reich der Wolgabulgaren von der Goldenen Horde zerstört, kurz bevor diese die Rus unter ihre Herrschaft brachte. Das Volk der Tschuwaschen sieht sich als Nachfolger eines Teils der Wolga-Bulgaren, ein anderer Teil verschmolz mit den Kasan-Tataren, die sich noch bis ins späte 19. Jahrhundert als "Bolgarları" (Bolgaren = Bulgaren) und nicht als "Tatarlar" (Tataren) bezeichneten.
[Bearbeiten] Blaue Bulgaren (Donau-Bulgaren)
Ein Teil unter dem dritten Sohn Asparuch wanderte auf den Balkan aus und gründete das heutige Donau-Bulgarien. Slawische Stammesgruppen schlossen sich Asparuch an, als seine Bulgaren gegen 680 die Donau überschritten. Es kam zu Kämpfen mit dem Heer und der Flotte des byzantinischen Kaisers Konstantin IV. im sumpfigen Donaudelta. Sie endeten mit einem Erfolg der Bulgaren, so dass sich das Byzantinische Reich zu jährlichen Tributzahlungen entschloss. Asparuch selbst fiel 700/01 in einem Gefecht mit den Chasaren.
Die hunnischen und türkischen Volksgruppen vermischten sich mit den slawischen Gruppen, so dass z. B. die slawische Schrift und alttürkischer Tierkreiskalender nebeneinander bestanden. Das Volk der „Blauen Bulgaren“ (Khökh Bulkhar/Qöq Bolqar), der Donaubulgaren, entstand. Ihre älteste Königsliste führt direkt auf Attilas Sohn Ernak zurück.
Die Macht der Donaubulgaren erreichte unter dem Khan Krum um 811 einen Höhepunkt, als dieser aus dem Haupt des byzantinischen Kaisers Nikephoros I. eine Trinkschale machte und beinahe Konstantinopel eroberte. Im 9. Jahrhundert traten die Donaubulgaren zum griechischen Christentum über.
[Bearbeiten] Sonstige
Kuver (Kuber) und Alzek, die beiden jüngsten Söhne Kubrats, zogen mit ihren Reitern und kleineren Stammesverbänden nach Pannonien (Ungarn) weiter. Nach einer misslungene Revolte gegen die Awaren trennten sich ihre Wege. Khan Alztek zog weiter westlich, überquerte die Alpen und zog durch Nord- nach Süditalien. Dort bekam Alzek das Herzogtum Benevent zugesprochen. Der Historiker Paolo Varnefrido berichtet, dass dort Khan Alzek von den langobardischen König Grimoald empfangen wurde. Alzek wurde die Region Molise zugesprochen, unter der Voraussetzung, das er auf seinen Titel und Herrschaftsanspruch verzichtet.
Khan Kuver zog Richtung Süden mit Teil der Sermesianoi, Nachfahren der römischen Provinzialbevölkerung auf dem Balkan erreichte das heutige Mazedonien und errichtete dort in Khaganat. Bis in die 1990er sah Bulgarien die Mazedonier nicht als eigenes Volk, sondern als Westbulgaren, Nachfahren der Protobulgaren von Khan Kuver an.
- Siehe auch: Hauptartikel Protobulgaren, Donaubulgarien, Wolgabulgaren
[Bearbeiten] Belege
- ↑ I. Dujcev: Bulgarien, Artikel in: Lexikon des Mittelalters, Stuttgart/Weimar 2000; Harald Haarmann: Protobulgaren, in: Lexikon der untergegangenen Völker, München 2005, S.225
[Bearbeiten] Literatur
- The New Cambridge Medieval History. Bd. 2. Cambridge 1995, S. 915ff. (ausführliche Bibliographie zum Thema Bulgaren und Slawen)
- Bojidar Dimitrov, "Bulgaria Illustrated History", Februar 1994 ISBN 954-500-091-0
- Edgar Hösch / Karl Nehring / Holm Sundhaussen (Hrsg.): „Lexikon zur Geschichte Südosteuropas“, Wien/Köln/Weimar, Böhlau Verlag 2004, ISBN 3-205-77193-1 (Böhlau)
- Beševliev V., Die protobulgarische Periode der bulgarischen Geschichte, Verlag Adolf M. Hakkert, Amsterdam, 1981, ISBN 90-256-0882-5
- Lexikon des Mittelalters (LMA). München 1980ff, ISBN 3-423-59057-2