Volksetymologie
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Bei einer Volksetymologie (Paretymologie) handelt es sich um einen historischen Wortbildungsprozess, bei dem ein unbekanntes Wort (meist Fremdwort) nach dem Vorbild eines vertraut klingenden Wortes in die Nehmersprache eingegliedert wird. Hierbei kann sowohl der Wortkörper phonologisch verändert werden, als auch durch das Mittel der Analogie eine phantasievolle Neubildung eintreten.
Die häufig anzutreffende Deutung dieses Fachterminus der historischen Sprachwissenschaft im Sinne einer bloß laienhaft durchgeführten Etymologie oder Pseudoetymologie ist hingegen selbst eine falsche Schlussfolgerung aus den Wortbestandteilen. Mit Volksetymologie bezeichnet man immer ein spezifisches Phänomen des Sprachwandels, niemals eine bloß falsche Etymologie. Eine bloß aus Gründen der semantischen Plausibilität angenommene, jedoch ohne methodische Untermauerung gewonnene Etymologie wird in der Sprachwissenschaft demgegenüber als Etymologie ad hoc bezeichnet.
Der Begriff der Volksetymologie wurde Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Aufsatz Ueber deutsche volksetymologie, erschienen 1852 in der Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung auf dem Gebiete des Deutschen, Griechischen und Lateinischen, von Ernst Förstemann geprägt. Sie kommen häufig in mündlich überlieferten Erzählungen vor. Dabei handelt es sich zumeist um homophone (gleich klingende) Namensdeutungen von Pflanzen, Orten oder Heiligen (z. B. Augustin bei Augenleiden). Es gibt darüber hinaus auch musikalische Volksetymologien. Neben den traditionellen, auf die geschriebene Sprache beschränkten Belege, geraten in jüngster Zeit, durch die besonderen medialen und konzeptionellen Bedingungen der „Neuen Medien“, auch bislang (noch) nicht lexikalisierte Volksetymologien in den Blick (vgl. Girnth/Klump/Michel 2007).
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[Bearbeiten] Beispiele
Volksetymologische Erklärungen beeinflussen insbesondere die lautliche Entwicklung von Wörtern bzw. auch nur deren Schriftbild, wie die folgenden Beispiele zeigen:
- lat. asparagus „Spargel“ als engl. sparrow-grass, wtl. „Spatzengras“
- frz. choucroute „Sauerkraut“, wtl. „Krustenkohl“ aus volksetymologischer Deutung des dt. -kraut als frz. croûte „Kruste“
- Armbrust – Das Wort Armbrust leitet sich vom lateinischen arcuballista „Bogenschleuder“ ab. Das darauf basierende, französische Wort arbaleste wurde dann eingedeutscht, wobei eine Kombination der ähnlich klingenden Wörter Arm (von der Möglichkeit, die Waffe in einer Hand zu halten) und dem mittelhochdeutschen berust/berost (Ausrüstung bzw. Bewaffnung) benutzt wurde. Noch später wurde der zweite Teil des Begriffs mit deutsch Brust identifiziert.
- Hängematte – Die ursprüngliche indianische Bezeichnung war hamáka. Im Französischen (hamac), Spanischen (hamaca), Englischen (hammock) und auch im Polnischen (hamak) wurde das Ursprungswort nahezu beibehalten. Für das deutsche Lautsystem aber klingt das Wort fremd, und so erfuhr es zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert lautliche Veränderungen, die in Hängematte resultieren, da diese besondere Liegemöglichkeit mit hängen und Matte verbunden wurde.
- Maulwurf – Volksetymologisch gesehen ist der Maulwurf ein Tier, das mit dem Maul Erde aufwirft. – Tatsächlich hieß das Tier im Althochdeutschen noch muwerf = „Haufenwerfer“ (muga, muha, muwa „(Korn-)Haufen“). Im Mittelhochdeutschen wurde daraus moltwerf „Erdwerfer“. Als das Wort molt für „Erde; Staub“ ausstarb, konnten die Sprecher des Deutschen mit dem moltwerf nichts mehr verbinden. Daher entstand das lautlich ähnliche Maulwurf.
- Zwiebel – Die alte Entlehnung aus lat. cepulla wurde bereits im Althochdeutschen angelehnt an die vermeintlichen Bestandteile zwi- „zweifach; doppelt“ und bolla „Knospe; Fruchtknoten“.
- Guter Rutsch ins neue Jahr – Diese Wendung hat ursprünglich nichts mit dem deutschen „rutschen“ zu tun, sondern geht vermutlich zurück auf jiddisch Rosch ha-Schanah = neues Jahr.
- Die (berlinische) Redensart Es zieht wie Hechtsuppe ist ebenfalls aus dem Jiddischen abgeleitet, wo hech supha Sturmwind bedeutet.
- Hals- und Beinbruch – Auch hier war das Jiddische Vorbild: hasloche un’ broche = Glück und Segen.
- Vielfraß - Der Name hat nichts mit der Ernährungsgewohnheit des Tiers zu tun, sondern kommt von dem nordischen Ausdruck fjellfräs, zu deutsch „Gebirgskatze“.
Auch viele Änderungen an der deutschen Rechtschreibung im Zuge der umstrittenen Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996 wurden von deren Urhebern, insbesondere Gerhard Augst, mit einer Angleichung an eine behauptete entsprechende Volksetymologie begründet.[1][2][3] Die Änderungen sind teilweise obligatorisch und teilweise fakultativ.
Beispiele für obligatorische Änderungen:
- Tollpatsch (zuvor: Tolpatsch) wurde durch Volksetymologie an das Adjektiv toll „verrückt“ angeglichen. Das Wort ist hingegen aus dem ungarischen Wort talpas (Spitzname für den ungarischen Fußsoldaten) entlehnt, einer Ableitung aus dem ungarischen talp „Sohle, Fuß“. Nach der Übertragung ins Deutsche erfolgte zunächst der Bedeutungsübergang zu „(österreichischer) Soldat, der eine unverständliche Sprache spricht“, später als eine abwertende, aber nicht boshafte Bezeichnung für einen ungeschickten Menschen.
- Quäntchen (zuvor: Quentchen): Hier wurde eine volksetymologische Verbindung des Wortes zu Quantum hergestellt. In Wirklichkeit geht das Quentchen auf lat. quintus „der Fünfte“ zurück. Es bezeichnete nämlich früher ein Fünftel der Gewichtseinheit Lot.
- belämmert (zuvor: belemmert) wurde mit Lamm verbunden. In Wirklichkeit leitet sich das Wort vom niederdeutschen belemmeren ab, was soviel wie „hindern, hemmen, beschädigen“ bedeutet, das mit Lamm etymologisch nichts zu tun hat.
- einbläuen/verbläuen (zuvor: einbleuen/verbleuen) wurden volksetymologisch als Ableitungen von blau beziehungsweise bläuen im Sinne von „blau färben“ umgedeutet, doch stammt bleuen vom althochdeutschen Verb bliuwan „schlagen“ ab, das etymologisch nichts mit blau zu tun hat.
Beispiele für fakultative Änderungen:
- Schänke (neben: Schenke) wurde volksetymologisch mit Ausschank verknüpft, doch handelt es sich um eine Ableitung von schenken.
- aufwändig (neben: aufwendig) wurde als volksetymologische Ableitung von Aufwand eingeführt. Etymologisch stammen Aufwand, Aufwendung und aufwendig von aufwenden und dieses seinerseits von wenden ab.
Siehe auch die Artikel Windhund, Pumpernickel und Fisimatenten oder Spa, sowie Habseligkeiten und Schickse.
[Bearbeiten] Literatur
- Hadumod Bussmann: Lexikon der Sprachwissenschaft, Stuttgart, ISBN 3-520-45201-4
- Ernst Förstemann: Ueber deutsche Volksetymologie. In: Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung auf dem Gebiete des Deutschen, Griechischen und Lateinischen [= Kuhns Zeitschrift] 1, 1852, 1-25.
- Karl Gustav Andresen: Ueber deutsche Volksetymologie. Vierte, stark vermehrte Auflage. Henninger, Heilbronn 1883. (1. Aufl. 1876)
- Gerhard Augst: Überlegungen zu einer synchronen etymologischen Kompetenz. In: ders.: Untersuchungen zum Morpheminventar der deutschen Gegenwartssprache. Narr, Tübingen 1975. S. 156-230. ISBN 3-87808-625-3
- Annemarie Brückner: Etymologie. In: Enzyklopädie des Märchens Bd. 4 (1984), Sp. 519-527.
- Meinolf Schumacher: Sunde kompt von sundern. Etymologisches zu 'Sünde', in: Zeitschrift für deutsche Philologie 110, 1991, S. 61-67.
- Gerd Antos: Anmerkungen zu einer Geschichte der Volksetymologie. In: ders.: Laien-Linguistik. Niemeyer, Tübingen 1996. S. 216-237. ISBN 3-484-31146-0
- Heike Olschansky: Volksetymologie. Niemeyer, Tübingen 1996 (Reihe Germanistische Linguistik 175) ISBN 3-484-31175-4
- Heike Olschansky: Täuschende Wörter. Kleines Lexikon der Volksetymologien. Stuttgart, 1999.
- Gerhard Augst: Volksetymologie und synchrone Etymologie. Zu Peter Godglück: Eigenwissen und Fremdverstehen. Über die sogenannten Volksetymologien. In: LiLi, Jg. 31, Heft 122, 2001, S. 137-149. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (LiLi) 127 / 2002. Seiten 144–147.
- Heiko Girnth, Andre Klump, Sascha Michel: 'Du defamierst somit die Verfasser der Gästebuchbeiträge, wo wir wieder bei den Beleidigungen wären'. Volksetymologie gestern und heute im Romanischen und Germanischen. In: Muttersprache 1/2007, S. 36-60.
[Bearbeiten] Siehe auch
[Bearbeiten] Weblinks
[Bearbeiten] Einzelnachweise
- ↑ Theodor Ickler: Regelungsgewalt. Hintergründe der Rechtschreibreform (PDF, 1,9 MB). Leibniz-Verlag, St. Goar, 2004, ISBN 3-93115-518-8, S. 87, 108, 175, 210, 226–238, 246.
- ↑ Wolfgang Denk: 10 Jahre Rechtschreibreform. Überlegungen zu einer Kosten-Nutzen-Analyse (PDF, 1,1 MB). S. 49.
- ↑ Hannes Hintermeier: Geheimsache Deutsch. In: FAZ, 22. August 2004.