Diskurs
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Der Begriff des Diskurses wurde laut unterschiedlichen philosophischen und allgemeinen Lexika ursprünglich in der Bedeutung „erörternder Vortrag“ oder „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Seit den 1960er Jahren wird der Begriff jedoch zunehmend von so genannten Diskurstheorien verwendet und erhält je nach Theorie eine völlig neue spezifische Bedeutung. Der aktuell populäre Begriff „Diskurs“ wird heute oft in Anlehnung an das Konzept der Diskursanalyse von Michel Foucault verwendet, manchmal auch bezüglich der von Jürgen Habermas geprägten Diskurstheorie, die auch als Konsenstheorie der Wahrheit bzw. Diskursethik bekannt ist.
Häufig wird der Begriff irreführend im Hinblick auf Foucault gebraucht, jedoch in seiner alten Bedeutung gemeint, nämlich im Sinne von Unterhaltung oder öffentlicher Diskussion.
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[Bearbeiten] Diskurs als Vortrag
Beim Diskurs als erörterndem Vortrag lassen sich zwei Diskursarten unterscheiden:
- bei systematischer Anwesenheit von Sprecherwechseln: Sprechhandlungssequenz, z. B. Frage und Antwort, Vorwurf und Rechtfertigung
- bei systematischer Abwesenheit von Sprecherwechseln: Sprechhandlungsverkettung, z. B. Vortrag, Erzählung.
[Bearbeiten] Philosophischer Diskursbegriff
Neben der oben erläuterten rein sprachwissenschaftlichen Bedeutung wird Diskurs heute vielfach als philosophischer Begriff verwendet. Allerdings stehen hier zwei Verwendungsweisen unverbunden nebeneinander:
- Jürgen Habermas sah als Vertreter einer linguistischen Wende in der Philosophie die Sprachfähigkeit als das entscheidende Kennzeichen des Menschen. Er entwickelte in diesem Zusammenhang in Zusammenarbeit mit Karl-Otto Apel eine Diskursethik. Diskurs ist bei ihm der „Schauplatz kommunikativer Rationalität“. Was jeweils als vernünftig gilt, ist die intersubjektive, von allen Teilnehmern einer Gemeinschaft anerkannte Wahrheit. Habermas’ Diskurstheorie hat auch einen gesellschaftstheoretischen Anspruch (→Diskurstheorie des Rechts).
- Michel Foucault hingegen untersucht als Poststrukturalist den Wandel der Denksysteme. Als Diskurs bezeichnet er viel grundsätzlicher den Vorgang der Herausbildung jener Wahrheiten, "in denen wir uns unser Sein zu denken geben". Was jeweils als "vernünftig" gilt, ist die Wirkung von "unpersönlichen und kontingenten Machtwirkungen".
[Bearbeiten] Jürgen Habermas
Grundlegend für die Diskurstheorie im Sinne von Habermas ist ein bestimmtes Verständnis von Sprache und Verständigung, wie es Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns entwickelt hat. Danach wird unterschieden zwischen
- kommunikativem Handeln, in Form regelmäßig verständigungsorientierter Äußerungen, sogenannten Sprechakten, und
- strikt eigeninteressiertem „strategischen Handeln“.
Nach diesem Verständnis verhält sich das strategische Handeln zum kommunikativen Handeln parasitär, das den Originalmodus des Sprechens darstellt.
Im kommunikativen Handeln erhebt ein Sprecher regelmäßig Geltungsansprüche, die je nach Aussage als solche der (propositionalen) Wahrheit, der (normativen) Richtigkeit und der (subjektiven) Wahrhaftigkeit erscheinen und auf das Einverständnis seines Gegenübers abzielen. Wird dieses Ziel verfehlt, wird also kein Einverständnis erreicht, so ist dies Ausgangspunkt für den Diskurs, der die einerseits erhobenen und andererseits kritisierten Geltungsansprüche problematisiert und „als Berufungsinstanz des kommunikativen Handelns“ fungiert.
Der Diskurs gewährleistet die Möglichkeit eines Konsenses durch die ihn konstituierenden Bedingungen, die unausweichlich, sprachnotwendig von jedem der Teilnehmer anerkannt werden. Sie wurden versuchsweise in „Diskursregeln“ formuliert und zielen auf die Herstellung einer „idealen Sprechsituation“ ab, in der nichts weiter herrscht als „der eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments und das Motiv der kooperativen Wahrheitssuche“.
„Unter dem Stichwort ‚Diskurs‘ führe ich die durch Argumentation gekennzeichnete Form der Kommunikation ein, in der problematisch gewordene Geltungsansprüche zum Thema gemacht und auf ihre Berechtigung hin untersucht werden.“
– Jürgen Habermas: Wahrheitstheorien[1]
Jürgen Habermas bezeichnet in seiner Theorie des kommunikativen Handelns den Diskurs als Prozess einer Aushandlung von individuellen Geltungsansprüchen der einzelnen Akteure (bei Habermas auch als „Aktoren“ bezeichnet). Ein Merkmal der Sprache ist dabei nach Habermas die ihr innewohnende Rationalität. Die Ergebnisse einer Kommunikation – wenn sie frei ist von Verzerrungen durch Macht oder Hierarchien – sind ihm zufolge zwangsläufig rational. Als Ideal, als beste Versicherung für wahrhaftige Erkenntnisse, sieht er somit den „herrschaftsfreien Diskurs“ – aufgebaut auf Diskursnormen (Prinzipielle Gleichheit der Teilnehmer, Prinzipielle Problematisierbarkeit aller Themen und Meinungen, Prinzipielle Unausgeschlossenheit des Publikums) und authentischen Gefühlen. Die dadurch erreichte kommunikative Realität soll das beste Argument zum Gewinn bringen – auf welches weiter aufgebaut werden kann.
Habermas’ Diskursbegriff besteht dabei in Teilen aus der psychoanalytischen Tradition der US-amerikanischen discourse analysis (Gesprächsanalyse). Jürgen Link sieht dabei als ein zweites Element den aufklärerischen „Begriff der Rationalität von Interventionen in öffentlichen Debatten“. Somit zielte Habermas mit diesen dialogischen und interaktionistischen Elementen zunächst auf „eine rationale, auf ungezwungenen Konsens zielende Debatte“. Später nähert sich Habermas mit seinem Diskursbegriff Michel Foucault an und spricht von speziellen bzw. spezialisierten Diskursen. Im Gegensatz zu Foucault „beharrt er […] auf der Priorität einer letztlich souveränen Intersubjektivität gegenüber dem jeweiligen Diskurs. Vereinfacht könnte man sagen: Bei Habermas konstituiert die Intersubjektivität den Diskurs, bei Foucault wird sie als je spezifisch-historische allererst von Diskursen konstituiert“.
[Bearbeiten] Michel Foucault
Der aktuell populäre Begriff "Diskurs" bezieht sich jedoch nicht auf Habermas oder etwa die Theorien der Gesprächs- und Konversationsanalyse der 1970er Jahre. Im Sinne einer Diskurstheorie wird der Begriff heute meist in Anlehnung an das Konzept der Diskursanalyse von Michel Foucault verwendet. Grob vereinfacht meint Foucault mit Diskurs das in der Sprache aufscheinende Verständnis von Wirklichkeit einer jeweiligen Epoche. Die Regeln des Diskurses definieren für einen bestimmten Zusammenhang, oder ein bestimmtes Wissensgebiet, was sagbar ist, was gesagt werden soll, was nicht gesagt werden darf, und von wem es wann in welcher Form gesagt werden darf (z.B. nur in Form einer wissenschaftlichen Aussage).
Die sogenannte "diskursive Praxis" setzt sich zusammen aus
- sprachlichen Aspekten (dem Diskurs) und
- nichtsprachlichen Aspekten (z.B. politische Institutionen oder Architektur).
- In manchen an Foucault anschließenden Theorien wird der Vollzug bestimmter (körperlicher) Darstellungsweisen (Performativität) als Teil der diskursiven Praxis verstanden. Beispielsweise bestimmte feministische Theorien fassen die Geschlechtsidentität selbst als diskursive Praxis auf (vgl. Judith Butler). Die heute als real wahrgenommenen Unterschiede zwischen Mann und Frau können so als diskursive Konstruktion dargestellt werden.
Beispiel: An einem Beispiel soll die Möglichkeit zur konstruktiven Verwendung des Diskursbegriffs deutlich gemacht werden: Der Begriff "Ausländerflut" ist eine Konstante im "Immigrations-Diskurs" in Deutschland, ein Begriff, der impliziert, Immigranten träten in "Fluten" und damit z. B. als Naturphänomen und Naturkatastrophe auf. In der Analyse des Diskurses zeigt sich, in welcher Weise wir über die Welt nachdenken – in diesem Fall über das als Immigration problematisierte Phänomen der Überschreitung (eigentlich auch nur gedachter) Grenzen. Wenn Einwanderung häufig in Verbindung mit Flut in unserem Denken und Reden auftaucht, so hat das tiefergehende Bedeutung.
In diesem Zusammenhang heißt dann "Diskurs" nicht mehr nur "Diskussion", sondern eher so etwas wie "sprachlich produzierter Sinnzusammenhang, der eine bestimmte Vorstellung forciert, die wiederum bestimmte Machtstrukturen und Interessen gleichzeitig zur Grundlage hat und erzeugt".
Soweit "Diskurs" in der öffentlichen Diskussion mit "Diskussion" gleichgesetzt wird, geht ein entscheidender Bedeutungsaspekt verloren: die Eigenschaft des Diskurses, Realität zu erzeugen und zu strukturieren.[2]
[Bearbeiten] Kritische Diskursanalyse
Jürgen Link und Siegfried Jäger schließen mit ihrer kritischen Diskursanalyse an den Diskursbegriff von Michel Foucault an. Diskurs bedeutet hier die institutionalisierte gesellschaftliche Redeweise, die das Handeln der Menschen bestimmt. Gegenstand sind dabei sowohl die Form, als auch der Inhalt von Äußerungen. Gefragt wird auch nach dem, was in den Redeweisen nicht gesagt wird oder sagbar ist. Für Jäger besitzt der Diskurs zudem eine historische Dimension: Diskurs ist ein Fluß von Rede und Texten („Wissen“) durch die Zeit (vgl. Siegfried Jäger 2004).
[Bearbeiten] Gegenbewegungen
Eine „Verwilderung“ der „Diskurs“-Form in der Popkultur wird manchmal konstatiert, aber auch kritisiert.[3]
[Bearbeiten] Siehe auch
- Rhetorik
- Argumentationstheorie
- Dispositiv (Diskurstheorie)
- Diskursstrang
- Dislokation (Diskurstheorie) (→Ernesto Laclau)
[Bearbeiten] Einzelnachweise
- ↑ In: Helmut Fahrenbach (Hrsg.): Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag. Neske, Pfullingen 1973, ISBN 3-7885-0037-9, S. 211–265, hier S. 214.
- ↑ Diskurs. In: Fabian Schmidt: Handbuch der Globalisierung. Berlin 2002, zuletzt abgerufen am 23. Juni 2008.
- ↑ Vgl. Enno Stahl: Bolz, Hörisch, Kittler und Winkels tanzen im Ratinger Hof. Was körperlich-sportiv begann, setzt sich auf anderer Ebene fort: Diskurs-Pogo. In: Kultur & Gespenster, Heft 6, Winter 2008, S. 107–117.
[Bearbeiten] Literatur
- Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses [1970], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991
- Michel Foucault, Archäologie des Wissens [1969], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981
- Roland Barthes, Leçon/Lektion. Antrittsvorlesung im Collège de France [1977], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980
- Hannelore Bublitz: Diskurs, Bielefeld: transcript 2003
- Holger Burckhart et al. (Hrsg.): Die Idee des Diskurses. Interdisziplinäre Annäherungen, Schwaben: Markt 2000
- Siegfried Jäger: Kritische Diskursanalyse: Eine Einführung, Münster: Unrast 2004 (4. Auflage), ISBN 3-89771-732-8
- Reiner Keller: Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms. Wiesbaden: VS-Verlag 2005
- Reiner Keller: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen. 3. aktualisierte Auflage. Wiesbaden: VS-Verlag 2007
- Reiner Keller/Andreas Hirseland/Werner Schneider/Willy Viehöver (Hrsg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Bd. 1: Theorien und Methoden. 2. aktualisierte und erweiterte Auflage. Wiesbaden: VS-Verlag 2006
- Reiner Keller/Andreas Hirseland/Werner Schneider/Willy Viehöver (Hrsg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Bd. 2: Forschungspraxis. 2. Auflage. Wiesbaden: VS-Verlag 2005
- Reiner Keller/Andreas Hirseland/Werner Schneider/Willy Viehöver (Hrsg.): Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Wissenssoziologie und Diskursforschung Konstanz: UVK 2005
- Jürgen Link: Elementare Literatur und generative Diskursanalyse, München: Fink 1983, ISBN 3770521420
- Jürgen Link: Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Eine programmierte Einführung auf strukturalistischer Basis, München: Fink 1993, ISBN 3-7705-1725-3
- Slavoj Žižek, Jenseits der Diskursanalyse, in: Oliver Marchart (Hg.), Das Undarstellbare der Politik. Zur Hegemonietheorie Ernesto Laclaus, Wien: Turia+Kant 1998, S. 123-131
- Jürgen Spitzmüller: Metasprachdiskurse. Einstellungen zu Anglizismen und ihre wissenschaftliche Rezeption, Berlin: de Gruyter 2005
- Johannes Angermüller: Nach dem Strukturalismus. Theoriediskurs und intellektuelles Feld in Frankreich., Bielefeld: Transcript 2007