Wulf Kirsten
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Wulf Kirsten (* 21. Juni 1934 in Klipphausen bei Meißen) ist ein deutscher Lyriker, Prosaist und Herausgeber.
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[Bearbeiten] Leben
Nach einer Lehre als Handelskaufmann arbeitet der Sohn eines Steinmetzen als Buchhalter, Sachbearbeiter und Bauarbeiter und legt 1960 an der Arbeiter- und Bauern-Fakultät (ABF) Leipzig sein Abitur ab. Von 1960 bis 1964 absolviert er ein Lehramtsstudium für Deutsch und Russisch in Leipzig. Die Studienzeit ist vor allem geprägt durch eine intensive Beschäftigung mit Literatur – Kirsten arbeitet sich systematisch durch die Deutsche Bücherei – sowie durch die Tätigkeit als freier Mitarbeiter für das „Wörterbuch der obersächsischen Mundarten“ (Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig), für das Kirsten mehr als tausend Belege aus seiner Heimat sammelt. In die Zeit des Studiums fallen erste ernsthafte Schreibversuche, die Veröffentlichungen in literarischen Zeitschriften und in Anthologien nach sich ziehen.
Für kurze Zeit arbeitet Kirsten nach seinem Studienabschluss als Lehrer, bevor er 1965 seine Tätigkeit als Lektor für den Aufbau Verlag in Weimar beginnt. Allein oder mit Kollegen gibt er eine Vielzahl von Bänden heraus, die durch genaue Recherche und kundige Kommentierung bestechen.
Zwischen 1969 und 1970 durchläuft Kirsten ein Studium am Literaturinstitut "Johannes R. Becher". Während des neunmonatigen Sonderkurses lernt er den ebenfalls aus Sachsen stammenden Dichter Heinz Czechowski kennen, mit dem ihn für einige Jahre eine produktive Freundschaft verbindet. Weiterhin ist aus dieser Zeit die Begegnung mit Georg Maurer hervorzuheben, der als Lyriklehrer eine ganze Generation von DDR-Autoren prägte. Dieses Studium in Leipzig ist einer der Hauptgründe dafür, dass Kirsten der sogenannten Sächsischen Dichterschule zugerechnet wird.
Seine schriftstellerische Arbeit widmet Kirsten vor allem der Lyrik, aber auch der Prosa. Zwischen 1968 und 1977 erscheinen mehrere Gedichtbände, 1984 ein Band mit zwei Prosatexten. Das schmale Reclam-Bändchen die erde bei Meißen (1986) versammelt in chronologischer Reihenfolge den Großteil der zwischen 1961 und 1982 entstandenen Gedichte. Für diese Publikation wird Kirsten im Jahre 1987 der renommierte Peter-Huchel-Preis verliehen. Kirsten wird damit erstmals auch im Westen Deutschlands von einem breiteren Publikum als Lyriker wahrgenommen. Im gleichen Jahr entschließt sich Kirsten für ein Dasein als freier Schriftsteller, betätigt sich aber auch weiterhin als Lektor und Herausgeber.
In der Umbruchzeit von 1989/90 engagiert sich Kirsten im Weimarer Neuen Forum, zieht sich jedoch bald ernüchtert aus der Politik zurück. Seit 1992 erscheinen Kirstens Bücher im angesehenen Zürcher Ammann Verlag. Seit Beginn der 90er Jahre wird Kirsten mehr und mehr als bedeutender deutscher Gegenwartsautor wahrgenommen und gewürdigt, was sich nicht zuletzt in einer Vielzahl von Auszeichnungen und Mitgliedschaften ausdrückt. Wulf Kirsten lebt und arbeitet in Weimar.
[Bearbeiten] Werk
Im Nachwort zu seiner ersten größeren Gedichtsammlung satzanfang (1970) umreißt der junge Lyriker Wulf Kirsten auf knapp vier Seiten sein poetisches Programm. Es gehe ihm in seiner Lyrik um „ein tieferes Eindringen in die Natur, eine auf sinnlich vollkommene Rede abzielende Gegenständlichkeit, eine Mehrschichtigkeit, mit der soziale und historische Bezüge ins Naturbild kommen“ – kurz: um „soziale Naturbetrachtung“. Der Blick auf die Tradition sei hierfür genauso bedeutsam wie der Bezug zur Gegenwart, emotionale Nähe genauso wichtig wie kritische Distanz. Das „überschaubare Segment Welt“ der eigenen Herkunftslandschaft biete sich hierfür als Modellfall an. – „Ich möchte den Werktag einer lokalisierten Agrarlandschaft, die für beliebig andere stehen mag, poetisieren (nicht romantisieren!), in einer aufgerauhten, 'körnigen' Sprache, die ich dem Thema angemessen finde. Es soll ein unberühmter Landstrich in poetischer Rede, also preisend, vorgeführt werden.“
Im Laufe der Jahrzehnte hat Kirsten sein „Thema“ erheblich weiterentwickelt, differenziert und relativiert. Gleichwohl ist in diesem frühesten autopoetologischen Text bereits das Potential des langsam anwachsenden Werkkorpus angelegt; er benennt die wichtigsten Entwicklungsrichtungen und zentralen Motive. Eine herausragende Stellung nimmt von Anfang an der Bezug auf die Landschaft ein, die als vom Menschen bearbeitete und veränderte Natur verstanden wird. Gemeinsam mit Kito Lorenc und Heinz Czechowski wurde Wulf Kirsten von der DDR-Literaturkritik denn auch als „Landschafter“ verstanden (Adolf Endler) – eine Klassifizierung, die auch von der westdeutschen Kritik übernommen wurde. Manifestiert sich der Blick in die Landschaft in Kirstens frühesten Gedichten mitunter noch als Fortschrittsglaube, Vertrauen auf die Technisierung und Bewunderung der menschlichen Leistungen, so weicht er in den spätsiebziger Jahren einer kritischen Perspektive. Zunehmend wird die Brutalität, Unausgewogenheit und Irreversibilität der menschlichen Eingriffe in die Natur thematisiert. Dennoch schreibt Kirsten keine Umweltlyrik. Vielmehr prägt sich immer deutlicher die Konzentration auf das Verlorene als zentrales Thema in seinem Werk aus. Die Zerstörung der Natur ist dabei nur eine Konsequenz der insgesamt auf Verlust und Vergessen angelegten menschlichen Zivilisationsweise. Mit Vorliebe wendet sich Kirsten jenen Landschaften, Arealen, Themen, Personen oder Ereignissen zu, die durch die Selektionsmechanismen des kulturellen Gedächtnisses marginalisiert, verdrängt, vergessen wurden. Er bedient sich dazu einer rau anmutenden und widerspenstigen Sprache, die durchsetzt ist von sperrigen und ungewöhnlichen Dialekt- oder Fachwörtern. Der Hang zum Nominalstil trägt dazu bei, um auch auf der sprachlichen Ebene den Eindruck des Widerständigen zu manifestieren.
Neben der Lyrik widmet sich Kirsten der Prosa. Zahlreiche Essays und Fachtexte entstanden im Rahmen seiner Tätigkeit als Lektor und Herausgeber, andere als Laudationes, Dankesreden oder poetologische Texte. Die essayistische Prosa – die wichtigsten Texte sind im Band Textur (1998) gesammelt – wirft Schlaglichter auf den breiten literaturgeschichtlichen Bildungshintergrund Kirstens und setzt sich unter anderem auch mit literarischen Quellen und Vorbildern auseinander, von denen er als Autor profitierte. Neben der Essayistik steht eine Reihe von Prosatexten, die man als „semifiktional“ bezeichnen könnte. Sie entziehen sich einer eindeutigen Gattungszuweisung und werden vom Autor selbst mit „Kleinstadtbild“, „Bericht“ oder „Dorfkindheit“ untertitelt. Die Schlacht bei Kesselsdorf (1984) befasst sich mit der finalen Schlacht, die am 15. Dezember 1745 den Zweiten Schlesischen Krieg zugunsten der Preußen entschied. Kleewunsch (1984) zeichnet halb ironisch, halb liebevoll das Bild eines sächsischen Provinzstädtchens in der Zeit der Restauration und Revolution (Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts). Für beide Texte wertete Kirsten zahlreiche historische Quellen aus. Das im Jahre 2000 erschienene Buch Die Prinzessinnen im Krautgarten ist dagegen selbst ein Stück erlebte Kriegs- und Nachkriegsgeschichte. Es enthält elf autobiographische Texte, die in loser Chronologie Episoden aus Kirstens Kindheitsjahren aufgreifen.
Als Herausgeber machte sich Kirsten spätestens mit den dreibändigen Deutschsprachigen Erzählungen (1981, gemeinsam mit Konrad Paul) einen Namen. Im Jahre 1997 wurde die „Thüringen-Bibliothek“ (später „Edition Muschelkalk“) ins Leben gerufen, eine Reihe, in der bereits etablierte neben jungen aufstrebenden Thüringer Autoren und Autorinnen veröffentlichten. 2002 gab Kirsten gemeinsam mit seinem Sohn Holm das akribisch recherchierte "Buchenwald-Lesebuch" mit Texten ehemaliger Häftlinges des KZs (u.a. Eugen Kogon, Ernst Wiechert, Bruno Heilig, Bruno Bettelheim, Robert Antelme, Jorge Semprún, H. G. Adler, Elie Wiesel, Imre Kertesz, Ivan Ivanji und Fred Wander) heraus.
[Bearbeiten] Werke (Auswahl)
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[Bearbeiten] Herausgebertätigkeit (Auswahl)
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[Bearbeiten] Auszeichnungen
- Förderungspreis Literatur der Akademie der Künste Berlin 1971
- Louis-Fürnberg-Preis 1972
- Jiri-Wolker-Medaille 1975
- Literatur- und Kunstpreis der Stadt Weimar 1983
- Johannes-R.-Becher-Preis 1985
- Peter-Huchel-Preis 1987
- Heinrich-Mann-Preis 1989
- Evangelischer Buchpreis des DVEB 1990
- Sekretär der Deutschen Schillerstiftung von 1859 zu Weimar 1990–1993
- Stadtschreiber Salzburg 1993
- Elisabeth-Langgässer-Literaturpreis 1994
- Fedor-Malchow-Lyrikpreis 1994
- Erwin-Strittmatter-Preis 1994
- Weimar-Preis 1994
- Hermann-Hesse-Stipendium Calw 1996
- Deutscher Sprachpreis der Henning-Kaufmann-Stiftung zur Pflege der Reinheit der deutschen Sprache 1997
- Stipendium des Künstlerhauses Edenkoben 1998
- Stadtschreiber von Bergen-Enkheim 1999
- Stadtschreiber Dresden 1999
- Horst-Bienek-Preis für Lyrik der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 1999
- Marie-Luise-Kaschnitz-Preis der Evangelischen Akademie Tutzing 2000
- Schiller-Ring der Deutschen Schillerstiftung 2002
- Ehrendoktorwürde der Friedrich-Schiller-Universität Jena 2003
- Eichendorff-Literaturpreis 2004
- Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2005
- Joseph-Breitbach-Preis 2006
- Christian-Wagner-Preis 2008
[Bearbeiten] Mitgliedschaften
- Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (Darmstadt)
- Mitglied der Akademie der Künste (Berlin)
- Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur (Mainz)
- Mitglied Freien Akademie der Künste zu Leipzig
- Mitglied im P.E.N.-Zentrum Deutschland
- Mitglied Literarische Gesellschaft Thüringen e.V. Sitz Weimar
[Bearbeiten] Literatur (Auswahl)
- Reinhard Kiefer: Wulf Kirsten – Textlandschaft als poetologisches Paradigma. In: DERS.: Landschaftstext und Textlandschaft. Stationen des deutschen Landschaftsgedichts (1945-1980) bei Wilhelm Lehmann, Peter Huchel und Wulf Kirsten. Habil. unveröff., Aachen, 1996, S. 349-450
- Elisabeth Weyer: In Sachsen und Thüringen. Der Schriftsteller Wulf Kirsten. Eine Produktion des Bayerischen Rundfunks 2001 (Fernseh-Feature, ausgestrahlt im Bayerischen Fernsehen am 24. März 2001)
- Anke Degenkolb: „anzuschreiben gegen das schäbige vergessen.“ Erinnern und Gedächtnis in Wulf Kirstens Lyrik. Berlin 2004, ISBN 3-8325-0509-1
- Gerhard R. Kaiser (Hg.): Landschaft als literarischer Text. Der Dichter Wulf Kirsten. Jena 2004, ISBN 3-931743-70-5
[Bearbeiten] Weblinks
- Literatur von und über Wulf Kirsten im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Autorenlesung in Immenstadt i. Allgäu
Personendaten | |
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NAME | Kirsten, Wulf |
KURZBESCHREIBUNG | deutscher Lyriker, Prosaist und Herausgeber |
GEBURTSDATUM | 21. Juni 1934 |
GEBURTSORT | Klipphausen |