Arisierung
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„Arisierung“ nannten die Nationalsozialisten die schrittweise erfolgte Enteignung der Juden im Deutschen Reich. Der Begriff bezieht sich auf eine angebliche „arische Herrenrasse“, zu der die Juden nach nationalsozialistischer Vorstellung nicht gehörten. Die Nationalsozialisten sprachen auch von Entjudung, ein Ausdruck, der an Ungezieferbekämpfung erinnern sollte.
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[Bearbeiten] Geschichte
Ab dem 1. Januar 1939 war Juden das Betreiben von Einzelhandelsgeschäften und Handwerksbetrieben sowie das Anbieten von Waren und Dienstleistungen untersagt. Schon vorher wurden jüdische Geschäftsinhaber oder Grundstücksbesitzer unter (teils öffentlichen) Druck gesetzt, das Geschäft deutlich unter dem aktuellen Wert zu verkaufen oder zu übertragen. Sehr oft waren daran bisherige Mitinhaber oder Angestellte beteiligt oder dadurch begünstigt, die ihre Verbindungen zur NSDAP oder ähnlichen NS-Organisationen zur privaten Bereicherung einsetzten. Im Herbst 1939 befanden sich von ehemals 100.000 Betrieben jüdischer Inhaber nur noch 40.000 in den Händen ihrer rechtmäßigen Eigentümer. [1]
Mit der Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben vom 12. November 1938 fanden die „Arisierungen“ nur noch ihren Abschluss: Die verbliebenen Betriebe jüdischer Inhaber wurden damit zwangsweise neuen nichtjüdischen Eigentümern übereignet, oder sie wurden aufgelöst. Die Erlöse wurden dabei zugunsten des Staates konfisziert. Schmuck, Juwelen, Antiquitäten, Immobilien und Aktien mussten zu Preisen weit unter dem Marktwert verkauft werden oder wurden ebenfalls konfisziert. Für den jüdischen Eigentümer bedeutete dies den Ruin. Jüdischen Arbeitnehmern wurde gekündigt, die Selbstständigen unterlagen einem weitgehenden Berufsverbot.
Den größten Anteil geraubten jüdischen Besitzes machten schließlich die Immobilien, als Wohn- und Geschäftshäuser, aus. Die forcierte „Arisierung“ des Hausbesitzes wurde jedoch zunächst hintangestellt. 1939 nahm der Druck auf den Verkauf jüdischen Grundbesitzes allerdings zu, gleichzeitig wurden den noch in Deutschland lebenden jüdischen Bürgerinnen und Bürgern die Mietrechte entzogen und sie nach und nach in sogenannte Judenhäuser, einer Vorform der Ghettos, eingewiesen. Nach den Deportationen zu Beginn der 1940er Jahre wurde das noch verbleibende jüdische Hauseigentum verstaatlicht. Häuser, die ehemals im Besitz jüdischer Familien waren, wurden nun unter anderem von Polizei und Wehrmacht genutzt.
Unternehmen konnten mit der Arisierung ihren Profit enorm steigern. Auch staatliche Institutionen wie Auktionshäuser und vor allem Museen konnten so zu wertvollen Gegenständen kommen. Das Inventar von Häusern und Wohnungen wurde vorort für Tage zur Besichtigung und zum Kauf angeboten. [2] [3]
Viele Unternehmen und Unternehmensanteile wurden weit unter dem wirtschaftlichen Wert weiterveräußert. Einige davon – z. B. das Kaufhaus Hertie (vormals Hermann Tietz, das größte Kaufhaus Berlins) – spielten eine wichtige Rolle in den späteren Aufbaujahren der Bundesrepublik Deutschland und sahen sich dem Vorwurf ausgesetzt, das „deutsche Wirtschaftswunder“ beruhe zum Teil auf geraubten Werten.
In einem erweiterten Sinn wurde der Begriff auch auf andere Bereiche ausgedehnt, z. B. auf das Kulturleben und bezeichnete in diesem Zusammenhang die Vertreibung oder Vernichtung jüdischer Kulturschaffender und Wissenschaftler.
Maßgeblich an der Arisierung in Deutschland beteiligt waren unter anderem die Unternehmen Dorotheum, Schenker und Hertie. Von der Arisierung profitieren konnten auch Museen und staatliche Institutionen wie Kunsthistorisches Museum Wien, Naturhistorisches Museum Wien, Technisches Museum Wien, Albertina (Wien), Österreichische Galerie Belvedere, Österreichisches Museum für Volkskunde.
[Bearbeiten] Siehe auch
- Arierparagraph = Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, § 3, vom 7. April 1933
- Nürnberger Rassegesetze vom 15. September 1935
- M-Aktion (Plünderung jüdischen Eigentums in den besetzten Ländern)
- Aktion 3 („freihändiger Verkauf“ von jüdischem Vermögen)
- Reichsfluchtsteuer
- Heimeinkaufsvertrag
[Bearbeiten] Literatur
- Götz Aly, Michael Sontheimer: Fromms. Wie der jüdische Kondomfabrikant Julius F. unter die deutschen Räuber fiel. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2007, ISBN 3-10-000422-1 (Darstellung der Arisierung anhand der Kondom-Firma Fromms) Der große Kondom-Klau, Rezension von Oliver Pfohlmann, in: Frankfurter Rundschau, 23. Februar 2007
- Frank Bajohr: "Arisierung" in Hamburg : die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933 - 1945. Christians, Hamburg 1997, ISBN 3-7672-1302-8 (zugleich Diss. an der Univ. Hamburg 1996/97)
- Avraham Barkai: Vom Boykott zur „Entjudung“. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933-1943. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt 1988, ISBN 3-596-24368-8
- Hanno Balz: Die 'Arisierung' von jüdischem Haus- und Grundbesitz in Bremen. Edition Temmen, Bremen 2004, ISBN 3-86108-689-1.
- Christof Biggeleben, Beate Schreiber, Kilian J. L. Steiner (Hrsg.): "Arisierung" in Berlin. Metropol, Berlin 2007, ISBN 3-93869-055-0 "Bereichert Euch!", Rezension von Konstantin Sakkas, in: Der Tagesspiegel, 29. August 2007
- Harold James: Die Deutsche Bank und die "Arisierung". Beck, München 2001, ISBN 3-406-47192-7
- Martin Jungius: Der verwaltete Raub. Die "Arisierung" der Wirtschaft in Frankreich 1940-1944. Thorbecke, Ostfildern 2007, ISBN 978-3-7995-7292-7
- Ingo Köhler: Die "Arisierung" der Privatbanken im Dritten Reich. Verdrängung, Ausschaltung und die Frage der Wiedergutmachung. Beck, München 2005, ISBN 3-406-53200-4 (zugleich Diss. Bochum 2003)
- Manuel Werner: Cannstatt – Neuffen – New York. Das Schicksal einer jüdischen Familie in Württemberg - mit den Lebenserinnerungen von Walter Marx. Sindlinger-Burchartz, Nürtingen/Frickenhausen 2005, ISBN 3-928812-38-6 (darin ausführliche Schilderung der „Arisierung“ einer Bandweberei, der Mechanismen, Vorstufen, der beteiligten Personen und Institutionen, der Wirkung auf die jüdischen Inhaber und knappe Darstellung der Rückerstattung)
- Johannes Ludwig: Boykott, Enteignung, Mord. Die 'Entjudung' der deutschen Wirtschaft. Piper Verlag GmbH, 2. überarbeitete Auflage, München 1992, ISBN 3492115802
[Bearbeiten] Einzelnachweise
- ↑ Konrad Kwiet: Nach dem Pogrom. Stufen der Ausgrenzung. In: Wolfgang Benz: Die Juden in Deutschland 1933-1945. Beck, München 1988, ISBN 3-406-33324-9, S. 547.
- ↑ Stadt Wien Einladung zum Lokalaugenschein im Palais Hohenfels in Hietzing, 70 Jahre danach, RK 21.05.2008.
- ↑ Geraubte Nachbarschaft Versteigerungsliste des Dorotheums Wien, 1938, des Hausrates der Villa von Bernhard und Nelly Altmann. Projekt: VHS Hietzing, 2008.
[Bearbeiten] Weblinks
- Braune Schatten im Herzen Berlins. Karstadt und das Lehrstück Wertheim, SWR2, 29. September 2006, als Audiobeitrag und Manuskript