Sprachverfall
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Das Schlagwort Sprachverfall stammt aus der Sprachkritik und bezeichnet die Befürchtung, dass Sprachen im Laufe der Zeit durch Veränderungen ursprüngliche Eigenheiten verlieren, die als erhaltenswert gesehen werden (z. B. Diversität in Grammatik und Grundwortschatz, Allgemeinverständlichkeit oder Ausdrucksschärfe). Im schlimmsten Fall soll Sprachverfall zum Beispiel als Sprachdrift zum Sprachtod führen.
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[Bearbeiten] Begründungen
Sprachverfall soll folgende Gründe haben:
- Möglicherweise werde eine Sprache nicht von kundigen Muttersprachlern, sondern von Menschen gesprochen, die sie schlecht beherrschen und somit nicht pflegen können, und dies in einem Ausmaß, dass es auf die gesamte Weiterentwicklung der Sprache (z.B. den alltäglichen Sprachgebrauch) ausstrahle.
- Zum anderen könne eine Sprache auch dadurch schrittweise verfallen, dass sie vielen Einflüssen aus anderen Sprachen ausgesetzt sei. Dadurch verliere sie ihre ursprünglichen Wurzeln und mutiere zu einer Mischung aus der ursprünglichen Sprache und Einflüssen von außen.
- Ein wesentlicher Grund sei der immer wieder kritisierte Einfluss der Medien, vor allem des Fernsehens und Radios. Fehlerhafte Grammatik wie die angeblich falsche Verwendung des Konjunktivs in der indirekten Rede, flapsiger, vermeintlich lockerer Jargon, unnötige Anglizismen usw. prägten das Gerede der Moderatoren und somit schleichend das der Zuhörer.
- Manche Sprachkritiker sehen Sprachverfall als „Teil eines Globalisierungsprozesses, der die kulturelle Vielfalt“ beseitige. [1]
[Bearbeiten] Kritik der Sprachwissenschaft am Konzept
„Sprachverfall“ ist ein wertender Begriff der Kulturkritik. Er ist eingebettet in das Konzept des „kulturellen Verfalls“, auf den Schriftsteller und Philosophen unterschiedlichster Provenienz — Schopenhauer, Nietzsche, Adorno, Heidegger und andere — hingewiesen haben.
Von der heutigen Sprachwissenschaft wird dagegen das Konzept des „Sprachverfalls“ zumeist zurückgewiesen, da es von mehreren unwissenschaftlichen Voraussetzungen ausgehe:
- Häufig gehe es nur um Oberflächenphänomene, also z. B. Lehnwörter, oder Veränderungen in der Flexion und im Satzbau (= Schwerpunkte der schulischen „Systemgrammatik“). In der Flexion komme es bei einer Sprache wie dem Deutschen vor allem zu Umschichtungen weg vom synthetischen hin zu einem eher analytischen Sprachbau, so beim Ersatz des deutschen Genitivs durch Konstruktionen mit von plus Dativ: Pauls Buch → das Buch von Paul
Die leichter zu durchschauenden (auch leichter zu bildenden) Strukturen des analytischen Sprachbaus würden von der Kritik dabei als „primitiver“ bezeichnet, während das zugrunde liegende Tiefenphänomen, nämlich die Bezeichnung eines Besitzverhältnisses, nach wie vor erfolgreich ausgedrückt bleibe (lediglich die Mittel haben sich verändert). - Die betroffene Sprache habe angeblich eine so hohe Qualität erreicht, dass jede Veränderung notwendigerweise eine Verschlechterung darstelle. Damit werde die Geschichtlichkeit von Sprache in Frage gestellt: Alle Sprachen veränderten sich, und zwar dauernd, weil sie sich der sich ständig verändernden Umwelt anpassen müssten bzw. von der Sprechergemeinschaft ununterbrochen angepasst würden.
- Die Befürchtung, eine Sprache entferne sich von ihren Wurzeln, gehe davon aus, dass es in einem früheren Sprachstadium „reine“, „unverfälschte“ Sprachen gegeben habe. Diese Meinung übersehe, dass jede Sprache seit jeher mit anderen Sprachen in ständigem Kontakt stehe. Es gebe daher keine von fremden Einflüssen „reinen“ Sprachen; jede Sprache sei immer auch eine „Mischsprache“, wobei sich zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Kontakte in unterschiedlicher Enge ergäben. Es habe also auch schon früher Veränderungen gegeben, die die Sprache von ihren älteren Wurzeln entfernt hätten, nur seien diese demjenigen Kritiker, der nur den gegenwärtigen Sprachzustand im Blickfeld hat, nicht bewusst. Die deutsche Sprache etwa sei während des gesamten Mittelalters stark vom Lateinischen beeinflusst worden; im 17. und 18. Jahrhundert sei der französische Einfluss überwältigend gewesen, der seit dem 20. Jh. durch den englischen bzw. angloamerikanischen abgelöst worden sei.
Ob und wie eine Sprache auf den lebendigen Austausch mit benachbarten oder überregional wirksamen Sprachen (etwa so genannten „Welt-Sprachen“) antworte, sei hingegen ein Indiz für die Offenheit und Beweglichkeit auch der sie tragenden Sprechergemeinschaft. In vielen Fällen gelinge dabei sogar nach längerem Kontakt mit zunächst „geborgtem“ Sprachgut dessen lautlich-gefühlsmäßige „Eingemeindung“ (z. B. lat. spicarium > dt. Speicher: Eindeutschung), dessen sinngemäße Übertragung in ein neues, klanglich-sinnhaft allgemeinverständlicheres Lehnwort (z. B. frz. rendez-vous > dt. Stelldichein) oder sogar die Nachbildung fremdsprachiger Strukturmöglichkeiten. - Da sich der fremde Einfluss nicht nur im sprachlichem Bezirk betätige, sondern der sprachliche Bezirk immer sofort unablösbar mit der Kultur und der sozialen Wirklichkeit verwoben sei und mit diesen interagiere, sei die Rede vom „Sprachverfall“ fast notwendigerweise meist zugleich Kultur- und Gesellschaftskritik.
- Die hiermit einhergehende allgemeine Unzufriedenheit der (Sprach-) Kritiker finde daher oft beinah reflexhaft nur in der Abwehr abgelehnter, neuer Entwicklungen sowie der „Verteidigung“ einer beliebigen früheren „Norm“ ihr Ziel und versäume dabei die (allerdings viel schwierigere) sprachpflegerische Herausforderung, die in jeder Epoche unvorhersehbaren, neuartigen Möglichkeiten, die andere Sprachen unablässig an die eigene herantragen, schöpferisch für die Prägung bester Begriffe und Vorstellungen, oder auch die bewusste Übernahme anerkannten „Fremd“gutes, zu nutzen.
[Bearbeiten] Siehe auch
[Bearbeiten] Literatur
- Horst Hensel: Sprachverfall und kulturelle Selbstaufgabe. Eine Streitschrift, Druck-Verlag Kettler, Bönen/Westfalen 1999. ISBN 3-925608-61-3