Homo antecessor
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Homo antecessor | |||||
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Nachbildung eines Schädelrests
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Zeitraum | |||||
Pleistozän | |||||
um ca. 650.000 vor heute (1,2 Mio. – 650.000 Jahre ?) |
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Fossilfundorte | |||||
Systematik | |||||
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Wissenschaftlicher Name | |||||
Homo antecessor | |||||
Bermudez de Castro et. al., 1997 |
Als Homo antecessor werden Fossilien der Gattung Homo bezeichnet, die – erstmals 1994 – im nördlichen Spanien gefunden wurden. Das Artepitheton antecessor kommt aus dem Lateinischen und bedeutet ungefähr Entdecker, Pionier, früher Siedler. Die Einstufung von Homo antecessor als eigenständige Art ist umstritten.
Inhaltsverzeichnis |
[Bearbeiten] Fundort
Die Sierra de Atapuerca, 14 km östlich von Burgos gelegen, ist eine Karstlandschaft, in deren kreidezeitlichem Dolomit sich zahlreiche Höhlen bildeten. Diese Höhlen wurden später allmählich mit pleistozänen Ablagerungen verfüllt und waren seit langem dafür bekannt, dass man in ihnen versteinerte Knochen finden konnte. 1976 fand dort der spanische Paläontologe Trinidad Torres auf der Suche nach fossilen Bären-Knochen das erste Fossil eines Menschen. Die Karsthügel von Atapuerca entpuppten sich rasch als die weltweit bedeutendste Lagerstätte für Fossilien aus dem Mittelpleistozän, der Zeit zwischen 780.000 und 125.000 Jahren vor heute.[1] Allein aus einer dieser Höhlen, der Sima de los Huesos („Knochengrube“), waren bis 1993 mehr als 1300 Fossilien geborgen worden, die der Gattung Homo zugeordnet werden konnten.[2]
Die Fundstücke werden im Museo Nacional de Ciencias Naturales in Madrid und in einer archäologischen Sammlung in Burgos aufbewahrt.
[Bearbeiten] Erstbeschreibung
In der Nähe der Sima de los Huesos wurden um 1900 beim Bau einer inzwischen stillgelegten Bergwerks-Eisenbahnstrecke mehrere Höhlen angeschnitten, in denen seit 1978 ebenfalls gegraben wurde. Dabei wurden 1990 in einer dieser Höhlen – genannt Gran Dolina („Großes Schlundloch“) – von Juan Luis Arsuaga Steinwerkzeuge entdeckt, und zwar in Schichten, deren Alter auf nahezu eine Million Jahre datiert wurde. Dies widersprach der bis dahin gültigen Annahme, dass Europa erst vor 500.000 Jahren von Menschen besiedelt wurde.[3]
1993 wurde unter Leitung von Eudald Carbonell in der Gran Dolina-Höhle begonnen, eine sechs Quadratmeter messende, 18 Meter dicke Ablagerung systematisch abzutragen. Im Juli 1994 kamen in der als TD6 bezeichneten Schicht 36 der Gattung Homo zuschreibbare Knochenfragmente und Zähne sowie rund 100 Steinwerkzeuge zutage. Anhand der Begleitfunden (u.a. diverse Nagetier-Arten), der Form der Steinwerkzeuge sowie paläomagnetischer Messungen wurden die Fossilien der TD6-Schicht zunächst auf ein Alter von mindestens 780.000 Jahren geschätzt.[4] [5] Zugleich wiesen die Entdecker darauf hin, dass sie die Funde keiner der etablierten Arten der Gattung Homo zugeordnet hatten. Sie erläuterten, man könne die Fossilien für „eine primitive Form des Homo heidelbergensis“ halten, möglicherweise werde man aber auch eine neue Art benennen, wenn weitere Funde dies angemessen erscheinen ließen.
Tatsächlich wurde im Mai 1997 in der Fachzeitschrift Science die Erstbeschreibung einer neuen Art, von Homo antecessor, veröffentlicht. Darin wurden die mittlerweile fast 80 – meist allerdings recht kleinen – Fundstücke von mindestens sechs Individuen als Überreste des „möglicherweise letzten gemeinsamen Vorfahren von Neandertalern und modernen Menschen“ bezeichnet und nun – deutlich abweichend von der ursprünglichen Datierung – auf ein Alter von „ungefähr 650.000 Jahren“ geschätzt.[6] Das Artepitheton antecessor sei gewählt worden, da die Funde aus der TD6-Schicht die frühesten bis dahin bekannten menschlichen Bewohner Europas gewesen seien.
Als Holotypus wurde in der Erstbeschreibung das Fragment von einem rechten Unterkiefer mit den Molaren M1, M2 und M3 (Archivnummer ATD6-5), das Oberkieferfragment ATD6-13 sowie weitere 12 dem gleichen Individuum zugeschriebene Zähne definiert. Aufgrund bestimmter Merkmale der Zähne (u.a. Prämolare mit mehreren Wurzeln) und der gefundenen Fragmente von mehreren Gesichtsschädeln (modern wirkendes Gesicht, aber primitive Kiefer und Überaugenwülste) wurde als Vorfahren der Gran Dolina-Funde Homo ergaster in Erwägung gezogen. Die spanischen Forscher schlossen sich somit einer – in der Fachwelt umstrittenen – Deutung paläoanthropologischer Funde an, der zufolge Homo erectus eine von Homo ergaster abgezweigte und später ausgestorbene, asiatische Seitenlinie im Stammbaum des Menschen sei, während sich Homo ergaster in Afrika über Homo antecessor zu Homo heidelbergensis und danach in Europa zum Neandertaler weiterentwickelt habe.[7]
[Bearbeiten] Weitere Funde
Im März 2008 wurde in Nature ein Unterkiefer vorgestellt, der im Juni 2007 aus der Sima del Elefante geborgen worden war und ebenfalls – allerdings ausdrücklich „vorläufig“ – Homo antecessor zugeschrieben wurde.[8] Dieser Fund wurde auf ein Alter von 1,1 bis 1,2 Mio. Jahre datiert und wäre, sollte die Datierung korrekt sein, nach den Dmanisi-Fossilien der zweitälteste Fund von Echten Menschen in Europa.
Möglicherweise können Homo antecessor auch Fossilienfunde aus einem Steinbruch bei Ternifine (Tighenif) in der Nähe von Muaskar, Algerien zugeordnet werden: drei Unterkiefer, ein Schädelfragment und einige Zähne, die 1954 vorläufig als Homo mauretanicus benannt worden waren.
[Bearbeiten] Kontroverse
Die Einordnung von Homo antecessor als eigene Art, die vor allem von spanischen Paläoanthropologen vertreten wird, war von Beginn an umstritten. Bereits 1997 kritisierte der französische Paläoanthropologe Jean-Jacques Hublin vom Centre national de la recherche scientifique in Science, dass die neue Art vor allem anhand von Gesichtsknochen eines Jugendlichen definiert wurde;[9] auch das Unterkieferfragment ATD6-96 stamme vermutlich von einer jungen Frau. Aus der Zeit zwischen 1,8 Millionen und 500.000 Jahren vor heute kenne man so wenige Homo-Fossilfunde aus Europa, wandten andere Forscher – beispielsweise Philip Rightmire von der State University of New York – ein, dass eine weitere Abstufung von Arten allein schon deshalb nicht zweckmäßig sei; zudem kenne man kaum jugendliche Gesichtsschädel von anderen Fundstätten, so dass Vergleiche mit dem Fossil ATD6-5 kaum möglich seien.
Vielfach werden die Homo antecessor zugeschriebenen Fossilien daher Homo erectus zugeordnet oder als früher Homo heidelbergensis interpretiert. Selbst Eudald Carbonell, der langjährige Grabungsleiter in Atapuerca, räumte 2008 beispielsweise ein, dass der Unterkiefer aus der Sima del Elefante sowohl dem jüngeren Homo heidelbergensis ähnele als auch den Dmanisi-Fossilien. Seiner Hypothese zufolge stammen die Fossilien aus Atapuerca von den meist noch Homo erectus zugeschriebenen Dmanisi-Menschen ab, die sich bis nach Spanien ausbreiteten.[10] Die Fossilien aus Atapuerca würden demnach im Sinne einer Chronospezies eine vermittelnde Stellung zwischen Homo erectus und Homo heidelbergensis einnehmen und somit nicht zu den unmittelbaren Vorfahren des modernen Menschen zählen.
[Bearbeiten] Einzelnachweise
- ↑ Ann Gibbons: Into the Pit of Human History. Science 276, 1997, S. 1332, doi:10.1126/science.276.5317.1332
- ↑ Juan-Luis Arsuaga, Ignacio Martínez, Ana Gracia, José-Miguel Carretero und Eudald Carbonell: Three new human skulls from the Sima de los Huesos Middle Pleistocene site in Sierra de Atapuerca, Spain. Nature 362, 1993, S. 534 – 537, doi:10.1038/362534a0
- ↑ Michael Balter: In Search of the First Europeans. Science 291, 2001, S. 1722–1725
- ↑ E. Carbonell et. al.:Lower Pleistocene Hominids and Artifacts from Atapuerca-TD6 (Spain). Science 269, 1995, S. 826–830, doi:10.1126/science.7638598
- ↑ J. M. Pares und A. Perez-Gonzalez: Paleomagnetic age for hominid fossils at Atapuerca archaeological site, Spain. Science 269, 1995, S. 830 – 832, doi:10.1126/science.7638599
- ↑ José María Bermúdez de Castro et. al: A Hominid from the Lower Pleistocene of Atapuerca, Spain: Possible Ancestor to Neanderthals and Modern Humans. Science Band 276, 1997, S. 1392–1395
- ↑ Ann Gibbons: A New Face for Human Ancestors. Science 276, 1997, S. 1331 – 1333, doi:10.1126/science.276.5317.1331
- ↑ Eudald Carbonell et. al.: The first hominin of Europe. Nature Band 452, 2008, S. 465–469, doi:10.1038/nature06815
- ↑ Ann Gibbons: A New Face for Human Ancestors. Science 276, 1997, S. 1331
- ↑ www.wissenschaft-online.de Andreas Jahn: Westwärts. Der erste Westeuropäer. 27. März 2008