Erdfigur
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Als Erdfigur (oder auch Erdgestalt) wird eine mathematisch möglichst einfach definierbare Annäherung an die Erdoberfläche bezeichnet. Eine solche Bezugsfläche wird in vielen Bereichen der Geowissenschaften für Berechnungen und für Positionsangaben benötigt. Erste Gedanken dazu dürften bereits auf südamerikanische Hochkulturen, Indien und Babylonien zurückgehen, vor allem aber auf die ionische Naturphilosophie.
Anstelle der frühgeschichtlichen Vorstellung von einer Erdscheibe trat während der griechischen Antike das Modell der Erdkugel – zu diesem historischen Prozess siehe den Artikel Flache Erde. Besonderen Anteil daran hatte der Naturphilosoph Anaximander (um 500 v. Chr.), der erstmals die Vorstellung äußerte, die Erde wäre eine frei schwebende (!) Kugel im Weltraum.
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[Bearbeiten] Die „Erdkugel“
Eine Erdkugel – oder ein theoretisch idealer Globus – ist als Rechenfläche für die Wissenschaften nur bedingt geeignet, weil die Erde durch ihre Rotation um etwa 0,3 Prozent an den Polen abgeflacht ist. Diese Abplattung – die bei den Planeten Jupiter und Saturn sogar 20mal größer ist – wäre zwar mit freiem Auge aus dem Weltall kaum zu bemerken, macht aber de facto über 21 km aus. Nimmt man den üblichen „mittleren Erdradius“ von 6370 km, sind die regionalen Abweichungen von diesem immerhin noch zwischen -14 km und +8 km.
Mit einem Kugelradius von 6368 km würden sich diese Abweichungen zwar auf −11/+10 km verringern, doch ergäben sich viel zu kleine Werte für Oberfläche und Volumen der Erde. Die mit unserem Planeten volumengleiche Kugel hätte einen Radius von 6371,0 km („mittlerer Erdradius“). Anmerkung: Der Radius einer flächengleichen Kugel ist bis auf wenige Meter derselbe.
Daher sind kugelförmige Modelle für die Erde nur dann brauchbar, wenn keine Genauigkeit besser als 10 km erforderlich ist. Selbst für die Landkarten in einem einfachen Schulatlas braucht man ein etwa 10-mal besseres Modell, und erst recht für Ortsangaben mit geografischen oder Gauß-Krüger-Koordinaten.
So ist vielfach unbekannt, dass sich geozentrische und geografische Breiten um bis zu 0,19° oder 22 Kilometer unterscheiden. Fachgebiete wie die Erdmessung, Geophysik und Satellitengeodäsie müssen sich täglich mit dieser Tatsache auseinandersetzen.
[Bearbeiten] Erdoberfläche, Erdellipsoid und „Geoid“
Prinzipiell kann die Form der Erde auf mehrere Arten definiert werden:
- als vereinfachte Erdoberfläche – also mit Meereshöhen von 0 m (eigentlich −400 m beim Toten Meer) bis +9.000 m (Himalaya),
- als Fläche der „festen Erde“ – also mit Höhen von −11 km (tiefster Meeresboden) bis +9 km,
- als idealisierte Fläche des Meeresspiegels (ohne die naturbedingten Schwankungen von 1 – 5 m) – das seit 1870 so genannte Geoid – oder schließlich
- ein dem Geoid angepasstes, rotations-symmetrisches Ellipsoid.
Die ersten zwei Möglichkeiten scheiden in der Praxis aus, weil sie für den Großteil der Anwendungen zu kompliziert sind. Berechnungen auf einer schrägen, variabel geneigten Fläche erfordern einen deutlich höheren Aufwand. Auch sind die hiefür erforderlichen „Digitalen Geländemodelle“ (abgek. DGM, international DTM) erst seit den 1990er Jahren ausreichend genau und global verfügbar.
Die dritte Möglichkeit scheidet im Regelfall – trotz des relativ gleichmäßigen Meeresspiegels – aus, weil auch diese Fläche mathematisch zu kompliziert ist. Eine Überlagerung von Flächenfunktionen, die den Meeresspiegel auch nur auf 2 bis 4 km genau darstellt, erfordert bereits eine Formelgruppe mit 1024 Koeffizienten [1]. Für eine Genauigkeit von ±1 km steigt der Aufwand auf mindestens das Zehnfache bzw. auf 100-fache Rechenzeit.
Trotzdem wird die Variante Nr. 3 für spezielle Zwecke (Ozeanografie, Physikalische Geodäsie und Geoidforschung) verwendet. Sie entspricht einem gemischt physikalisch-mathematischen Modell.
Für die praktische Anwendung wird das Geoid durch seine Abweichung von einem Bezugsellipsoid festgelegt: In einem regelmäßigen Raster werden die Lotabweichung (Unterschied zwischen Ellipsoidnormale und Lotlinie) und die Geoidundulation (Höhenunterschied zwischen Ellipsoid und Geoid) angegeben. So lassen sich trotz der Unregelmäßigkeiten im Schwerefeld präzise Vermessungsnetze berechnen und mit Gravimetrie kombinieren.
[Bearbeiten] Referenzellipsoid und „mittleres Erdellipsoid“
Nach alldem bleibt das Modell Nr. 4 – welches der weit überwiegenden Zahl von Anwendungen und Berechnungen zugrunde gelegt wird: Eine nicht physikalisch, sondern rein geometrisch definierte, durch zwei Achsen festgelegte Rotationsfigur (Äquatorradius a und Polradius b).
Die konkreten Werte der Achsen a, b hängen allerdings von der jeweiligen Region ab, weil sich die mittlere Erdkrümmung bereits auf großen Teilen der 6 Kontinente um 1–2 km unterscheiden kann.
Diesbezügliche Details sind unter den Stichworten Bessel-Ellipsoid, Krassowski- bzw. Hayford-Ellipsoid und den GPS-Modellen GRS 80 und WGS 84 nachzulesen. Für globale Vermessungen (etwa mit Satelliten) oder für die Raumfahrt sind die letztgenannten Bezugssysteme gedacht, für die Landesvermessung einzelner Staaten die sog. Referenzellipsoide. Die 3 obgenannten (Bessel 1842, Hayford 1924 und Krassowski 1940) und weitere (z. B. Clarke 1866/80, Fischer-Mercury 1960 und rund 100 für diverse Inselgruppen) unterscheiden sich untereinander um etwa 100 bis 1000 Meter, damit sie dem jeweiligen Land optimal angepasst sind.
[Bearbeiten] Resümee
Was ist also die „Erdgestalt“? In der geowissenschaftlichen Fachliteratur seit 1900 und in der Praxis ist es – je nach Fach- und Forschungsgebiet:
- das Referenz- bzw. Erdellipsoid
- das Geoid (für Teilgebiete von Geodäsie und Geophysik)
- Demgegenüber ist die tatsächliche Erdoberfläche für den allgemeinen Sprachgebrauch zu detailliert, um als Erdfigur zu gelten. Allenfalls sieht das ein Geologe oder Geomorphologe differenzierter, wenn er lokale Landformen, Gebirgsbildungen, Gipfel- oder Talformen analysiert.
[Bearbeiten] Referenzen
- ↑ K.Ledersteger / G.Gerstbach, Die horizontale Isostasie / Das isostatische Geoid 31. Ordnung. Geowiss. Mitteilungen Band 5, TU Wien 1975.
- Friedrich Robert Helmert: Die mathematischen und physikalischen Theorieen der Höheren Geodäsie, Band I.. Verlag B.G. Teubner, Leipzig 1880.
- Veikko Heiskanen, Helmut Moritz: Physical Geodesy (das klassische Lehrbuch bis 2005). Freeman-Verlag, San Francisco 1967, Nachdruck Graz 1979.
- Bernhard Hofmann-Wellenhof (Hrsg.): Physical Geodesy (modernster Nachfolger des obg. Lehrbuches). Springer-Verlag, Wien 2005, ISBN 3-211-23584-1.
- Wolfgang Torge, Geodäsie. 1. Auflage. Göschen/De Gruyter, Berlin 1975.