Jüdische Gemeinde Norden

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Die jüdische Gemeinde in Norden bestand über einen Zeitraum von rund 450 Jahren von ihren Anfängen im 16. Jahrhundert bis zu ihrem Ende am 7. April 1942. Zur Gemeinde in Norden gehörten auch die Juden auf Norderney, die ab 1878 eine eigene Synagoge betrieben, ihre Toten jedoch weiterhin auf dem jüdischen Friedhof in Norden beerdigten.

Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Geschichte der Jüdischen Gemeinde in Norden

[Bearbeiten] 16. Jahrhundert bis 1933

Der jüdische Friedhof von Norden
Der jüdische Friedhof von Norden

Wann genau sich die ersten Juden in Norden niedergelassen haben, ist nicht mehr zu ermitteln. Eine zeitgenössische Quelle erwähnt 1581 zum ersten mal einen im Ort ansässigen Juden. Aufgrund späterer Quellen ist jedoch davon auszugehen, dass es zu diesem Zeitpunkt bereits eine jüdische Gemeinde im Ort gegeben haben muss. Dies geht aus einem Schreiben des in Norden ansässigen Hofjuden Meyer Calmans an die Fürstin Christine Charlotte hervor. Er schrieb am 22. August 1669, dass die Juden in Norden schon vor hundert Jahren ein Stück Land gepachtet hatten, um darauf einen Friedhof anzulegen. Dies war der älteste jüdische Friedhof in Ostfriesland. Auch die Juden von Emden und Aurich begruben ihre Toten zunächst hier. Bei der Erneuerung des Pachtvertrages im September 1669 wurden diese Angaben bestätigt und darauf hingewiesen, dass die Juden nach Anweisung die Heuer alle Jahr richtig bezahlt und erstattet hätten. 1577 verfassten die Juden von Norden und Emden ein Schreiben an die Gräfin Agnes von Hoya, brachten ihre Bedenken gegen eine drohende Ausweisung aus Ostfriesland zum Ausdruck und baten sie, sich für die Juden Ostfrieslands beim Grafen Edzard II. einzusetzen. Grund für diese Annahme war ein Streit zwischen den Stadt Emden und dem Grafen in Aurich, die beide für sich die Erhebung von Schutzgeldern und Judengeleiten in Anspruch nahmen. Agnes von Hoya war mit dem Grafen Johann II. von Rietberg und Herren des Harlingerlandes verheiratet. Sie war die Mutter von Walburga, der Erbtochter der Grafschaft von Rietberg und späteren Frau Enno III.. Ob sich Agnes für die Juden eingesetzt hat, ist unbekannt, jedenfalls scheint der Graf als Sieger aus diesem Konflikt hervorgegangen zu sein, denn die Juden wurden nicht ausgewiesen. Der Konflikt war damit jedoch keineswegs gelöst und die ostfriesischen Städte setzten ihre Beschwerden gegen die Juden fort.

Ruine der Synagoge Norden
Ruine der Synagoge Norden

Die Synagoge wurde 1802 errichtet. Im Gegensatz zu den anderen Ostfriesischen Orten sah sich die jüdische Gemeinde in Norden mit einem offenen Antisemitismus konfrontiert. So wurde Recha Freier (* 29. Oktober 1892 in Norden, Ostfriesland; † 2. April 1984 in Jerusalem, Israel; gebürtig Schweizer) schon in ihrer Kindheit mit dem Antisemitismus in Norden konfrontiert, als sie mit ihrer Familie durch ein Schild am Betreten des Blücherplatzes gehindert wurde. Nach dem verstärkten Zuzug von polnischen und russischen Juden in Folge der Pogrome von 1881-1884 verstärkte sich der Antisemitismus in Norden gar. Es gab Gerüchte, wonach die zugezogenen Juden die Cholera übertragen würden. In einem Artikel schrieb der Ostfriesische Kurier dazu, das mehr ungezogene als ernst zu nehmende Gebaren gegen die Fleischnot birgt auch in Bezug auf die drohend ihr Haupt erhebende Cholera ernste Gefahren. Denn mit der Oeffnung der Grenze kommen nicht nur russische Schweine, sondern auch - russisch polnische Juden über die Grenzen![1]" Das amtliche Kreisblatt von Norden schlägt in die selbe Kerbe und schreibt: Viel gefährlicher sind in Ihrer unglaublichen Unsauberkeit die russisch-polnischen Juden[2] . Der offene Antisemitismus in Norden dürfte dazu beigetragen haben, dass sich der Zionismus von Norden aus über Ostfriesland und die Niederlande ausbreitete. Ab 1897 gab es zionistische Vorträge in Norden. In einem Artikel von die Welt heißt es dazu:

Norden. Unsere ostfriesischen Juden, ein körperlich und geistig kerngesunder Stamm, welcher aus spagnolischer und aschkenasischer Mischung hervorgegangen ist, hatte vor einigen Tagen zum erstenmale Gelegenheit, vom Zionismus zu hören und sich für ihn zu begeistern. Herr Dr. Loewe aus Jaffa, der Palästina schon oft in allen seinen Teilen bereist hat, hielt hier einen ebenso glänzenden wie interessanten Vortrag über „Palästina, Land und Leute“. Kein Mitglied der Gemeinde versäumte es, dem „Esra“, in dessen Namen der Propagandavortrag stattfand, beizutreten, zum Theil mit sehr namhaften Beiträgen. Herr Dr. Loewe wird morgen in zwei anderen Städten Ostfrieslands jüdisch-nationale Beiträge Vorträge halten, um dann die zionistische Propaganda nach den Niederlanden zu tragen. Die Furcht vor dem bösen Zionismus, die geflissentlich von gewissen Rabbinern in's Volk getragen wurde, ist hier unbekannt. Gleichwohl darf man diese Erfolge umso weniger unterschätzen, als sie die Grundlage einer nach Westfriesland und Holland gerichteten Agitation sein werden. Wir wünschen dem Rufer im Streite weiteren guten Erfolg.[3]

1903 erfolgte ein Neubau an gleicher Stelle. Neben der Synagoge bildeten eine Schule, ein rituelles Tauchbad, Häuser für den Lehrer und Kantor, den Synagogendiener und das Sekretariat das jüdische Gemeindezentrum im Synagogenweg, ehemals Judenlohne.

[Bearbeiten] 1933 bis 1938

ehemalige jüdische Schule in  Norden
ehemalige jüdische Schule in Norden
ehemaliges jüdisches Sekretariat in  Norden
ehemaliges jüdisches Sekretariat in Norden

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahre 1933 hatten die Juden in Norden unter Repressionen staatlicher Organe zu leiden. Zunächst wurden sie registriert, und die Gestapo überprüfte bei einigen die politische Gesinnung. Auch Vereine, Organisationen und Veranstaltungen standen mit Beginn der nationalsozialistischen Diktatur unter Beobachtung. Am 28. März 1933 wurden alle jüdischen Geschäfte in Norden geschlossen. Am selben Tag erlässt Bleeke, der Standartenführer für Ostfriesland, ein Schächtverbot für alle ostfriesischen Schlachthöfe und ordnet an, daß die Schächtmesser verbrannt werden. Am 29. März wurde die Bevölkerung von Norden mit einer Anzeige der SA im Ostfriesischen Kurier über die weitere Durchführung des Boykotts informiert, in der es hieß:

Bekanntmachung!
Das Aktionskomitee des Kreises Norden zur praktischen planmäßigen Durchführung des Boykotts jüdischer Geschäfte, jüdischer Waren, jüdischer Aerzte und jüdischer Rechtsanwälte befindet sich in Norden in der „Börse“, Telephon 2188
Die SA-Führung
[4]

Die Namen der Bürger, die weiterhin in jüdischen Geschäften kauften, wurden in der Presse veröffentlicht. Der Boykott wurde am 5. April offiziell beendet, da die Hetze inzwischen vollständig verstummt sei[5].

Dennoch wurde die Diskriminierung wurde jedoch mittels Propaganda, Verordnungen und Gesetzen weiter betrieben. 1934 wurde die jüdische Schule zur „Privatschule“ erklärt, was die staatlichen Zuschüsse auf ein Minimum reduzierte

In Norden gab es Übergriffe der SA gegen einen jungen Juden und seine „arische“ Freundin wegen sog. „Rasseschändung“, bei denen Zuschauer Beifall klatschen. Wenig später wurde eine weitere junge Frau aufgegriffen, der Beziehungen zu einem Juden vorgeworfen wurden, und ebenfalls durch die Stadt geführt. Auf dem Schild, dass die um den Hals tragen musste, war zu lesen: „Ich bin ein deutsches Mädchen und habe mich vom Juden schänden lassen“ [6].

[Bearbeiten] “Reichspogromnacht“ 1938

Die Namen des jüdischen Gemeindevorstandes in den 1930er Jahren, eingeritzt in die Wand des jüdischen Gemeindehauses
Die Namen des jüdischen Gemeindevorstandes in den 1930er Jahren, eingeritzt in die Wand des jüdischen Gemeindehauses

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 kam es auch in Norden zu den von Reichsleitung der Nationalsozialisten befohlenen Ausschreitungen gegen die Juden, die später als "Reichskristallnacht" oder Novemberpogrome 1938 bezeichnet wurden. Der Kreisleiter von Norden, Lehnhard Everwien, wurde erst um Mitternacht von dem zufällig in Emden anwesenden Gauhauptstellenleiter Meyer erreicht. Dieser teilte ihm mit, dass der zuständig SA-Führer in Norden, Sturmbannführer Wiedekin nicht erreichbar sei. Ewerwien sollte dies nun persönlich in die Hand nehmen. Nachdem dieser zunächst untätig blieb, wurde er dann gegen 1 Uhr in der Nacht direkt von Oldenburg aufgefordert, Wiedekin zu wecken. Everwien rief darauf die Partei- und die SA-Führung sowie die Feuerwehr in den frühen Morgenstunden des 10. November zusammen. Er informierte sie über die Weisung, dass die Synagoge anzuzünden und alle Juden zu verhaften seien. Von der Feuerwehr verlangte er Garantien zum Schutz der Nachbarhäuser.

Wiedekin gab nach der Alarmierung der SA den Befehl an die ihm unterstellte SA in Dornum weiter. [7]

Kurz darauf brannte die Synagoge. Die Feuerwehr wurde herbeigeholt, um eine Ausbreitung des Feuers auf „nichtjüdischen“ Besitz zu verhindern. Die Juden wurden anhand der Judenkartei von der SA zusammengetrieben, gedemütigt und misshandelt und zum Norder Schlachthof getrieben. Am nächsten Tag wurden sie zunächst zu Aufräumarbeiten an der Synagoge eingesetzt, wobei die SA sie zwang, noch erhaltene Kultgegenstände zu verbrennen. Anschließend wurden die Frauen entlassen und die Männer zum Teil in der Schule, zum Teil im Norder Gefängnis untergebracht. Am 11. November wurden sie schließlich zusammen mit etwa 200 anderen jüdischen Ostfriesen nach Oldenburg überstellt. Dort wurden sie in einer Kaserne zusammengetrieben. Ca. 1.000 jüdische Ostfriesen, Oldenburger und Bremer wurden dann mit einem Zug in das Konzentrationslager Sachsenhausen nördlich von Berlin deportiert, wo sie bis Dezember 1938 oder Anfang 1939 inhaftiert blieben. Nach und nach wurden sie wieder freigelassen, mussten aber die Folgekosten der Zerstörung selbst aufbringen; der Wiederaufbau wurde verboten. Alle Konten jüdischer Bürger wurden gesperrt und mit einer „Judenabgabe“ von 500 bis 3000 Reichsmark belegt. Die Juden erhielten lediglich einen Freibetrag von 150 Reichsmark im Monat.

[Bearbeiten] Exodus, Vertreibung und Ermordung

Nach den Novemberpogromen löste sich die Jüdische Gemeinde in Norden schnell auf. Wohnten 1938 noch 78 Juden im Ort und weitere 10 im zur Synagogengemeinde gehörenden Marienhafe, sank diese Zahl bis zum 16. April 1940 auf 11 Personen. Neun von ihnen wurden kurz darauf abtransportiert, während die beiden halbwüchsigen Söhne eines jüdischen Vaters und einer nichtjüdischen Mutter bei auswärtigen Verwandten versteckt werden konnten und nicht mehr auffindbar waren. So oder so konnte Norden nun „judenfrei“ gemeldet werden.

[Bearbeiten] Nachkriegszeit

Fast 50% der jüdischen Norder wurden im Holocaust ermordet. In Norden wurden die Prozesse gegen die Hauptverantwortlichen 1948 und 1951 geführt. Das Gericht verhängte in beiden Prozessen Freiheitsstrafen zwischen ein und vier Jahren bei sieben Freisprüchen und 13 Verfahrenseinstellungen.

[Bearbeiten] Gemeindeentwicklung

Die jüdische Gemeinde in Norden unterhielt ab 1878 eine Außenstelle auf Norderney, um den vielen dortigen jüdischen Badegästen gerecht zu werden. Weitere Orte, deren jüdische Bürger von der Norder Synagogengemeinde aus betreut wurden, waren Hage, Marienhafe und Westerende.

Jahr Gemeindemitglieder
1802 193 Personen
1867 314 Personen
1885 253 Personen
1905 283 Personen
1925 231 Personen
1938 88 Personen
1940 16. April 11 Personen

[Bearbeiten] Gedenkstätten

Mahnmal auf dem jüdischen Friedhof von Norden
Mahnmal auf dem jüdischen Friedhof von Norden

Das alte Gemeindezentrum der jüdischen Gemeinde in Norden ist bis auf die Synagoge noch vollständig erhalten.

  • Die Stadt Norden hat die ehemalige Judenlohne am Synagogenweg umbenannt.
  • Gedenkstein für die niedergebrannte Synagoge Am Synagogenweg.
  • Mahnmal auf dem jüdischen Friedhof

[Bearbeiten] Einzelnachweise

  1. zitiert aus: Im deutschen Reich, Heft 10. Oktober 1905, S. 545
  2. zitiert aus: Im deutschen Reich 1905, a. a. O., S. 545
  3. Die Welt, Jg 1, Heft 28 vom 10. Dezember 1897
  4. Ostfriesischer Kurier vom 29. März 1933
  5. Rheiderland Zeitung vom 4. April 1933
  6. Das Ende der Juden in Ostfriesland, Katalog zur Ausstellung der Ostfriesischen Landschaft aus Anlaß des 50. Jahrestages der Kristallnacht, Verlag Ostfriesische Landschaft, Aurich 1988 [ISBN 3-925365-41-9]
  7. Das Ende der Juden in Ostfriesland, a. a. O., S. 30

[Bearbeiten] Siehe auch

[Bearbeiten] Literatur

  • Lina Gödeken: Rund um die Synagoge in Norden. Die Geschichte der Synagogengemeinde seit 1866, Aurich 2000, ISBN 3-932206-18-5
  • Herbert Reyer, Martin Tielke (Hrsg.): Frisia Judaica. Beiträge zur Geschichte der Juden in Ostfriesland. Aurich 1988, ISBN 3-925365-40-0
  • Das Ende der Juden in Ostfriesland. Katalog zur Ausstellung der Ostfriesischen Landschaft aus Anlaß des 50. Jahrestages der Kristallnacht. Verlag Ostfriesische Landschaft, Aurich 1988, ISBN 3-925365-41-9
  • Hans Forster jun., Günther Schwickert: Norden. Eine Kreisstadt unterm Hakenkreuz. Dokumnte aus der Zeit der Gewaltherrschaft 1933 - 1945, Norden 1988 (hrsg. von den Norder Jungsozialisten und vom SPD-Ortsverein Norden; im Eigendruck)
  • Ökumenische Arbeitsgruppe Synagogenweg Norden (Hrsg.), Bernd Bohnsack, Walter Demandt, Almut Holler: erinnern, gedenken, hoffen unter dem davidstern. Woche der Begegnung vom 19. bis 24. Juni 2005 in Norden, Norden 2006

Koordinaten: 53° 35' N, 07° 11' O