Einspurmodell
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Das Einspurmodell ist ein vereinfachtes Modell zur Beschreibung des Lenkverhaltens, beschreibt die Reaktionen von Fahrzeugen auf Lenkbewegungen.
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[Bearbeiten] Annahmen und Gültigkeit
Folgende Annahmen werden für Einspurmodelle gemacht:
- Fahrgeschwindigkeit v = const (keine Beschleunigung in Fahrzeuglängsrichtung)
- Zwei Freiheitsgrade: Gierbewegung und Schwimmbewegung
- Keine Wankbewegung, keine Radlastdifferenz zwischen kurveninnerem und kurvenäußeren Rad einer Achse
- Keine Hub- und Nickbewegung, konstante Radlasten an Vorder- und Hinterachse
- Die Radaufstandspunkte, an denen die zur Kurshaltung erforderlichen Seitenkräfte der Reifen angreifen, werden Achs weise in der Fahrzeugmitte zusammengefasst
- Kleine Lenk- und Schräglaufwinkel, linearisierte Seitenkraftkennlinien an den Reifen
- Die Reifennachläufe und Rückstellmomente infolge der Schräglaufwinkel werden vernachlässigt
- Keine Umfangskräfte an den Reifen. (Die Bedingung v = const erfordert Längskräfte, die jedoch bei kleinen Lenkwinkeln vernachlässigt werden können.)
Die Gültigkeit der Einspurmodelle gilt nur für trockene Fahrbahnen und wirkende Querbeschleunigungen unter 0,4g ≈ 4 m/s². (Etwa bis zu dieser Grenze kann das Verhältnis zwischen Reifenseitenkraft und -schräglauf als linear betrachtet werden.)
[Bearbeiten] Stationäres Verhalten
Das stationäre Verhalten des Einspurmodells wird zunächst durch den Eigenlenk- EG und durch den Schwimmwinkel-Gradienten SG charakterisiert. Die zu Grunde liegende Fahrdynamik-Prozedur ist die stationäre Kreisfahrt. Bei diesem Manöver wird das Fahrzeug auf einer Kreisbahn mit vorgegebenem Radius - typischer Weise 40, 80, oder 100 m - gefahren, die Geschwindigkeit wird langsam bis zur maximal möglichen gesteigert. Das folgende Bild zeigt das Einspurmodell bei stationärer Kreisfahrt:
Der erforderliche Lenkwinkel, einen gegebenen Bahnradius einzuhalten, setzt sich aus dem kinematischen und dem Eigenlenkwinkel zusammen. Der kinematische Anteil berechnet sich aus dem Radstand und dem Kurvenradius:
Dieser allein ist wirksam, wenn die Querbeschleunigung vernachlässigbar klein ist, also bei großen Radien und kleinen Geschwindigkeiten.
Der Eigenlenkwinkel ist der Anteil des Lenkwinkels, der auf Grund der Schräglauf der Reifen infolge Zentripetalkraft - also bei nennenswerter Querbeschleunigung - zustande kommt. Der Eigenlenkwinkel wird als Differenz der Schräglaufwinkeln der Vorder- und Hinterachse definiert und ändert sich linear mit der Querbeschleunigung:
δE = αV − αH
Der Eigenlenkgradient ist die Ableitung des Eigenlenkwinkels nach der Querbeschleunigung ay und kann unmittelbar aus den Parametern des Einspurmodells - Massenanteil und Schräglaufsteifigkeit an Vorder- und Hinterachse, oder Gesamtmasse, Radstand und Schwerpunktabstände der Achsen - ausgedrückt werden:
Wenn der Eigenlenkgradient positiv ist, nennt man das Eigenlenkverhalten untersteuernd (der Fahrer muss ja zusätzlichen Lenkwinkel aufbringen, um den Radius einzuhalten), bei negativen Werten übersteuernd (der Fahrer muss "gegenlenken"). Falls der Eigenlenkgradient Null ist, ist das Fahrzeug neutralsteuernd.
Wegen und kann der erforderliche Lenkwinkel, wie folgt, geschrieben werden:
die Gierverstärkung ergibt sich daraus zu
Die Gierverstärkung nimmt zunächst mit steigender Geschwindigkeit zu. Bei untersteuernden Fahrzeugen erreicht sie bei der charakterischen Geschwindigkeit einen Maximum, danach fällt sie ab. Bei übersteuernden Fahrzeugen steigt die Verstärkung progressiv und wird bei der kritischen Geschwindigkeit unendlich gross. "Formelmäßig" werden beide Geschwindigkeiten gleich berechnet:
Die maximale Gierverstärkung bei untersteuernden Fahrzeugen ergibt sich zu
Der Schwimmwinkel bei kleiner Querbeschleunigung ergibt sich rein geometrisch aus dem Kurvenradius und dem Schwerpunktabstand der Hinterachse:
Mit zunehmender Querbeschleunigung wird sie kleiner und kann negativ werden. Der Gradient des Schwimmwinkels SG wird als Quotient von der Hinterachs-Anteil der Fahrzeugmasse und der Schräglaufsteifigkeit der Hinterachse berechnet:
[Bearbeiten] Dynamisches Verhalten
[Bearbeiten] Mathematische Herleitung
Folgendes Bild zeigt die Kräfte und Momente (links) sowie die kinematischen Beziehungen (rechts) am Einspurmodell:
- Dynamisches Gleichgewicht in Querrichtung und um die Hochachse (aus Fahrzeugmasse m, Querbeschleunigung ay, Reifenseitenkräfte vorn und hinten FV und FH sowie Abstände der Vorder- und Hinterachse zum Schwerpunkt lV und lH) :
- Kinematische Beziehungen zwischen Schwimmwinkel β, Gierwinkelgeschwindigkeit , Lenkwinkel δ und Schräglaufwinkeln der Vorder- und Hinterachse αV, αH:
- Reifen-Seitenkraft aus Schräglaufsteifigkeit und Schräglaufwinkel an Vorder- und Hinterachse:
- Die Querbeschleunigung lässt sich aus Fahrgeschwindigkeit, sowie Gier- und Schwimmwinkelgeschwindigkeit berechnen:
Aus den Gleichungen lässt sich ein lineares Differentialgleichungssystem mit zwei Unbekannten, nämlich dem Schwimmwinkel und der Gierwinkelgeschwindigkeit, bilden:
Das Gleichungssystem kann auch in Vektor- und Matrizenform als Gleichung in der Zustandsraumdarstellung geschrieben werden. Den Vektor der Zustandsgrößen bilden der Schwimmwinkel und die Gierwinkelgeschwindigkeit, die Eingangsgröße ist der Lenkwinkel.
Alternativ - wenn die Geschwindigkeits-Abhängigkeit untersucht werden soll - kann die Matrix und der Vektor auch folgendermaßen geschrieben werden:
[Bearbeiten] Eigenverhalten
Das Eigenverhalten des Fahrzeuges (Verhalten ohne Lenkanregung) wird ermittelt, indem die Eigenwerte λ der Dynamikmatrix berechnet werden.
Die charakteristische Gleichung:
und die Lösung
Die Eigenwerte - wie die Parameter der Dynamik-Matrix - sind geschwindigkeitsabhängig. Bei kleiner Fahrgeschwindigkeit ergeben sich reele, bei höherer Geschwindigkeit konjugiert komplexe Eigenwert-Paare. Diese können dann als Eigenfrequenz und Dämpfung, wie folgt, interpretiert werden:
ungedämpfte Eigenfrequenz [Hz]:
gedämpfte Eigenfrequenz [Hz]:
Dämpfung [ - ]
Der Übergang von reellen zu komplexen Lösungen erfolgt dann, wenn die Diskriminante - also der Ausdruck unter dem Wurzelzeichen in der Lösungsformel der quadratischen Gleichung - den Wert Null annimmt. Die Dämpfung beträgt an dieser Stelle 1.
Aus der Formel lässt sich die Geschwindigkeit ermitteln:
[Bearbeiten] Übertragungsverhalten
Das Übertragungsverhalten von der Lenkanregung zur fahrdynamischen Zustandsgröße kann aus dem ursprünglichen Differentialgleichungssystem abgeleitet werden, in dem die zunächst nicht interessierende Größe aus der einen Gleichung ausgedrückt und in die andere eingesetzt wird. Formal gelingt es besser, wenn Anstelle der Originalgleichungen die Laplace-Transformierten benutzt werden. Die Übertragungsfunktion von dem Lenkwinkel zur Gierwinkelgeschwindigkeit ergibt sich zu
Die stationäre Verstärkung kann als ausgedrückt werden, einfacher ist jedoch - wenn nur diese Größe interessiert - nach der Methode, wie bei dem stationären Verhalten beschrieben ist, vorzugehen.
Auf gleiche Art, wie oben, lässt sich die Beziehung zwischen Lenkwinkel und Schwimmwinkel ausdrücken:
[Bearbeiten] Beispiel
Gegeben seien folgende Fahrzeugdaten aus [2]:
Bezeichnung | Formelzeichen | Größe | Maßeinheit |
---|---|---|---|
Abstand Schwerpunkt - Vorderachse | lV | 1.344 | m |
Abstand Schwerpunkt - Hinterachse | lH | 1.456 | m |
Masse | m | 1550 | kg |
Gierträgheitsmoment | Jz | 2800 | kg m^2 |
Schräglaufsteifigkeit vorn | cV | 75 000 | N/rad |
Schräglaufsteifigkeit hinten | cH | 150 000 | N/rad |
Mit den obigen Größen ergibt sich die Dynamikmatrix A zu
Wie die Matrix selbst, sind auch die Eigenwerte von der Fahrgeschwindigkeit abhängig. In diesem Beispiel sind die Eigenwerte bis 8.49 m/s reell, darüber kojugiert komplex. Im Bild links wird der Verlauf der Eigenwerte in der komplexen Zahlenebene dargestellt:
Die daraus abgeleiteten Größen, wie ungedämpfte und gedämpfte Eigenfrequenz und Dämpfung zeigt folgendes Bild:
Die stationäre Gierverstärkung über der Geschwindigkeit verläuft zunächst degressiv ansteigend. Bei der charakteristischen Geschwindigkeit erreicht die Größe ihr Maximum, danach fällt sie wieder.
Der Verlauf der Verstärkung über der Frequenz wurde im folgenden Bild dargestellt. Wie im vorherigen Bild zu erkennen ist, wird eine stationäre Verstärkung von ca. 3.5 1/s sowohl bei einer Fahrgeschwindigkeit von 13.4 als auch bei 38 m/s erreicht. Daher ist der Ausgangspunkt für beide Kurven gleich. Doch während die Kurve der kleineren Geschwindigkeit von Anfang an abfällt, erkennt man ein ausgeprägtes Maximum bei der höheren Geschwindigkeit. Der Grund dafür ist im Verlauf der Gierdämpfung zu finden: mit zunehmender Geschwindigkeit sinkt diese.
[Bearbeiten] Literatur
[1]: Mitschke, Manfred: Dynamik der Kraftfahrzeuge, Band C: Fahrverhalten; Springer-Verlag 1990; ISBN 3-540-15476-0
[2]: Mitschke, Manfred: Dynamik der Kraftfahrzeuge; Springer-Verlag 2004; ISBN 3-540-42011-8
[2]: Zomotor, Adam: Fahrwertechnik: Fahrverhalten; Vogel Buchverlag Würzburg 1987; ISBN 3-8023-0774-7
[3]: Föllinger, Otto: Regelungstechnik; Dr. Alfred Hüthig Verlag, 1985; ISBN 3-7785-1137-8