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Cesare Lombroso – Wikipedia

Cesare Lombroso

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Foto eines zeitgenössischen Ölbildes des Psychiaters Cesare Lombroso
Foto eines zeitgenössischen Ölbildes des Psychiaters Cesare Lombroso

Cesare Lombroso (* 6. November 1835 in Verona; † 19. Oktober 1909 in Turin) war ein italienischer Arzt, Professor der gerichtlichen Medizin und Psychiatrie. Er gilt als Begründer der kriminalanthropologisch ausgerichteten sogenannten Positiven Schule der Kriminologie (Scuola positiva di diritto penale), der neben dem Mediziner Lombroso auch die italienischen Juristen Enrico Ferri und Raffaele Garofalo zugerechnet werden. Die Positive Schule verstand sich selbst als Reaktion auf die Klassische Schule der Kriminologie (Cesare Beccaria, auch Jeremy Bentham) und sorgte dafür, dass im 19. Jahrhundert zunehmend naturwissenschaftlich ausgebildete Fachleute, vor allem Mediziner, aber auch Biologen und Anthropologen sich der Thematik der Kriminalität annäherten. In der heutigen Terminologie könnte man ihn als den ersten Profiler bezeichnen.

Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Leben

Lombroso wurde 1835 Verona in eine jüdische Familie hineingeboren. Er studierte Medizin in Padua, Wien und Paris. Zwischen 1863 und 1872 war er Verantwortlicher für die Irrenanstalten in Pavia, Pesaro und Reggio Emilia. 1874/75 wurde er außerordentlicher Professor für Gerichtsmedizin, Hygiene und Toxikologie in Pavia. Ab 1876 war er Professor für Gerichtsmedizin und Hygiene in Turin. Wie Auguste Comte, in dessen Tradition er steht, überbetonte er biologische Ursachen für Geisteskrankheiten. Die theoretischen Ergebnisse seiner Studien besagten zudem, dass diejenigen Bevölkerungsteile, die sich kriminell betätigen, eine höhere Prozentzahl von physischen, nervösen und mentalen Anomalien zeigen, als die nicht-kriminellen. Diese Anomalien seien teilweise durch Degeneration, teilweise durch Atavismus zu erklären.

1872 erscheint Genio e follia (dt. Genie und Irrsinn, 1887), ein psychiatrisch-anthropologisches Werk, mit dem Lombroso auch einem größeren Publikum bekannt wird. In der zeitgenössischen Diskussion um das Genie vertritt er die Position, dass es sich hierbei um einen permanenten psychischen Ausnahmezustand handle, der in seinen verschiedenen Ausformungen Analogien zur "Verrücktheit" im Sinne der Ekstase zeige und letztlich biologisch nicht grundsätzlich verschieden von der kriminellen Disposition sei. In Genio e follia beschreibt Lombroso Schriftsteller wie Tasso, Rousseau, Hölderlin oder Kleist als "Genies mit Geistesstörung" und vergleicht sie mit klinischen Fällen von Wahnsinn. Gemeinsam ist beiden Gruppen eine angeborene Abweichung von der zivilisierten, vernunftgeleiteten Norm: Sowohl Genies als auch Wahnsinnige fallen regelmäßig in einen chaotischen, regellosen Naturzustand zurück.

Mit seinem 1876 erstmals veröffentlichten Werk L´Uomo delinquente (dt. Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung, 1887) begründete er eine neue Theorie in der Kriminologie, den Übergang vom Tat- zum Täterstrafrecht. Seine Lehre vom delinquente nato - dem geborenen Verbrecher - war von Anfang an umstritten. Der Kriminelle wird hier als besonderer Typus der Menschheit beschrieben, der in der Mitte des Geisteskranken und des Primitiven stehe. In deutschsprachigen Ländern wurden seine kriminalbiologischen Theorien unter der Bezeichnung Tätertypenlehre verbreitet.

Die direkte Verwandtschaft zu den aggressiveren, nicht kulturell domestizierten Vorfahren des heutigen Menschen trete bei manchen Personen in ihren körperlichen Merkmalen offen zutage, so Lombrosos These. Eine bestimmte Schädelform oder zusammengewachsene Augenbrauen sind damit der Verweis auf eine atavistische - damit niedrigere und gewalttätigere - Entwicklungsstufe. Damit deuten äußere Merkmale auf die tief verwurzelten Anlagen zum Verbrecher hin, die auch durch die Aneignung sozialer Verhaltensweisen nicht überdeckt werden können.

Nicht mehr die verbrecherische Tat, sondern der Kriminelle als anthropologisch determinierter Typus wird damit zum Gegenstand einer neuen wissenschaftlichen Disziplin, der forensischen Phrenologie. Die praktischen Reformen, die Lombroso anregte, wollten den Delinquenten, der seiner Theorie zufolge kriminell geboren wurde, eine andere Art der Bestrafung erhalten lassen, als derjenigen, der durch die Umstände zu seinen Taten getrieben wurde.

1880 gründet Lombroso das Archivio di psichiatria, antropologia criminale e scienze penali.

1892 wird in Turin das "Museo di psichiatria e antropolgia criminale" gegründet, in dem Lombroso eine Vielzahl von Gegenständen versammelte: Schriften und künstlerische Erzeugnisse von Geisteskranken und Kriminellen, Fotografien und Schädel von anormalen Persönlichkeiten.

[Bearbeiten] Kritik und Rezeption

Lombroso, der einer jüdischen Familie entstammte, vereinigte in seiner Person verschiedene heterogene Persönlichkeitszüge, so erklärte er sich offen als Sozialist, Positivist, Philosemit, Rassist und Eugeniker - er war also nicht ohne Widersprüche und eben dadurch selbst ein interessanter Persönlichkeitstypus, der klarerweise sehr differenziert zu betrachten ist. Ob seine polarisierenden Theorien als verdienstvoll zu werten seien, ist in der gegenwärtigen Forschung allerdings umstritten. Mit seiner Fixierung auf anatomische Körpermerkmale steht Lombroso in einer fragwürdigen kriminologischen Tradition, die Verdächtigungen und Vorverurteilungen aufgrund von biologischen Merkmalen begünstigte. Deshalb neigen heutige Wissenschaftler, die eine biologisch-genetische Prädeterminierung des Menschen zum "Bösen" oder zum Verbrechen ablehnen, in der Regel zu einer negativen Einschätzung Lombrosos. [1] [2] [3] [4]

Mit seiner Theorie vom geborenen Verbrecher wollte Lombroso die aufklärerische Doktrin des freien Willens reformieren. In strafrechtlichen Angelegenheiten sollten die Zuständigkeit zwischen Juristen und Medizinern zugunsten der Mediziner verschoben werden. Lombroso ging es dabei keineswegs um eine "mildere" Beurteilung oder geringere Bestrafung des geborenen Verbrechers, sondern um die Deutungshoheit des Psychiaters im strafrechtlichen Prozess.

Unter Berufung auf Lombrosos kriminalbiologische Thesen führten die Nationalsozialisten während des Dritten Reichs in Deutschland im Rahmen ihrer medizinisch-eugenischen Programme umfangreiche Zwangssterilisationen bei Kriminellen und Geisteskranken durch.

[Bearbeiten] Werke

  • L’uomo bianco e l’uomo di colore (dt: Der weiße und der farbige Mann), 1871. Der junge Lombroso versucht eine Lanze für die Rezeption der Theorien Darwins in Italien zu brechen.
  • L'uomo delinquente. In rapporto all'antropologia, alla giurisprudenza ed alle discipline carcerarie, Turin, Bocca, 1876. (dt: Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung, Hamburg 1889)
  • Genio e follia, in rapporto alla medicina legale, alla critica ed alla storia (dt: Genie und Irrsinn in ihren Beziehungen zum Gesetz, zur Kritik und zur Geschichte Leipzig: Reclam 1887)
  • La donna delinquente ... (dt: Das Weib als Verbrecherin und Prostituirte. Anthropologische Studien, gegründet auf e. Darstellung d. Biologie u. Psychol. d. normalen Weibes mit G. Ferrero. Hamburg: Verlagsanst. u. Dr. A.-G. 1894)

[Bearbeiten] Literatur

  • Peter Strasser: Verbrechermenschen. Zur kriminalwissenschaftlichen Erzeugung des Bösen (1984), erweiterte Neuausgabe Campus, Frankfurt 2005, ISBN 978-3593377476
  • Delia Frigessi: Cesare Lombroso. Turin, Einaudi, 2003, ISBN 88-06-13866-9
  • Mary Gibson: Born to crime : Cesare Lombroso and the origins of biological criminology. Westport, Conn., Praeger, 2002, ISBN 0-275-97062-0
  • Klaus Hofweber: Die Sexualtheorie des Cesare Lombroso. München, Univ. Diss., 1969
  • Giorgio Colombo: La scienza infelice. Il Museo di antropologia criminale di Cesare Lombroso. Torino: Bollati Boringhieri 2000
  • Mariacarla Gadebusch Bondio: Die Rezeption der kriminalanthropologischen Theorien von Cesare Lombroso in Deutschland von 1880-1914. Husum: Matthiesen 1995
  • Delia Frigessi, Ferruccio Giacanelli, Luisa Mangoni (ed): Cesare Lombroso. Delitto, genio, follia. Scritti scelti. Torino: Bollati Boringhieri 2000

[Bearbeiten] Einzelnachweise

  1. Stephen Jay Gould: Der falsch vermessene Mensch. Frankfurt M. 1999, S. 129f.
  2. Peter Becker: Physiognomie des „Bösen“. Cesare Lombrosos Bemühungen um eine präventive Entzifferung des Kriminellen. In: Claudia Schmölders (Hg.): Der exzentrische Blick. Gespräch über Physiognomik. Berlin 1996, S. 163-186.
  3. Pier Luigi Baima Bollone: Cesare Lombroso ovvero il principio dell’irresponsabilità. Torino 1992.
  4. Daniel Pick: Faces of Degeneration. A European Disorder, c.1848–c.1918. Cambridge u.a. 1989. S. 128f.

[Bearbeiten] Weblinks


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