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Boëthius – Wikipedia

Boëthius

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Mittelalterliche Illustration Anicius Manlius Severinus Boëthius'
Mittelalterliche Illustration Anicius Manlius Severinus Boëthius'

Anicius Manlius Torquatus Severinus Boëthius (* zwischen 475 und 480 in Rom, † zwischen 524 und 526 in Pavia) war ein spätantiker christlicher Philosoph. Er gilt als der letzte Repräsentant des antiken Römertums unter den Gelehrten und Philosophen; in diesem Sinne endet die spätantike Kultur im Westen mit ihm als „letztem Römer“. Jedenfalls gehört er noch ganz der antiken, nicht der frühmittelalterlichen Welt an.

Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Leben

Boëthius entstammte – wie Anicia Juliana und später Papst Gregor der Große – der uralten, angesehenen und einflussreichen römischen Familie der Anicii. Sein Vater Flavius Manlius Boëthius war wie auch viele seiner Vorfahren Konsul gewesen (487). Boëthius verlor seinen Vater in jungen Jahren, doch fand er in Quintus Aurelius Memmius Symmachus, der ebenfalls einer der bekanntesten Familien Roms entstammte, einen liebevollen Pflegevater, dessen Tochter Rusticiana er später heiraten sollte.

Boethius lehrt seine Studenten; Initiale aus einem Manuskript von 1385 des Trosts der Philosophie
Boethius lehrt seine Studenten; Initiale aus einem Manuskript von 1385 des Trosts der Philosophie

Bereits in jungen Jahren wurde Boëthius, der offenbar eine umfassende Bildung genoss, als Gelehrter geschätzt. Daneben spielte er auch politisch eine wichtige Rolle und stieg zu höchsten Staatsämtern auf. 510 wurde er Consul ordinarius (d.h. das Jahr benennender Konsul) – ungewöhnlicherweise ohne einen oströmischen Kollegen.[1] Als 522 seine beiden Söhne, Symmachus und Boëthius, zu Konsuln ernannt wurden und er selbst Magister officiorum wurde, d. h. an die Spitze der Reichverwaltung des Ostgotenkönigs Theoderich trat, erreichte er den Höhepunkt seines Ruhmes und Einflusses. Problematisch war aber seine Stellung als Römer und Katholik im Reich des arianischen Ostgotenkönigs. Als nach dem Regierungsantritt des oströmischen Kaisers Justin I. die Kirchengemeinschaft zwischen Konstantinopel und Rom im Jahr 519 wiederhergestellt wurde,[2] befürchtete Theoderich wohl einen großangelegten, politisch und religiös begründeten Angriff auf seine Machtbasis und verdächtigte seine römischen und katholischen Untertanen, mit den ebenfalls mehrheitlich „katholischen“ Oströmern zu sympathisieren und zu konspirieren. In der Tat betrachteten wohl die meisten Senatoren den Kaiser als ihren eigentlichen Souverän; der Gotenkönig agierte in ihren Augen nur als dessen Statthalter. Eine maßgebliche Rolle spielte in der oströmischen Politik schon damals der künftige Nachfolger Justins, Justinian I., der dann weniger als ein Jahrzehnt nach Theoderichs Tod tatsächlich den Vernichtungskrieg gegen das Ostgotenreich begann.

In diesem Zusammenhang geriet auch Boëthius in Verdacht, da er sich nachdrücklich für den wegen Hochverrats angeklagten Senator Albinus einsetzte. Er wurde abgesetzt, von dem für solche Fälle zuständigen senatorischen Gericht wegen Hochverrats verurteilt, bei Pavia eingekerkert und schließlich hingerichtet. Das Todesjahr ist nicht genau bekannt, die neuere Forschung tendiert aber mehr zum Jahr 526 als zum Jahr 524, das in der älteren Forschung oft vertreten wurde.

Die Einzelheiten und die Rolle Theoderichs im Zusammenhang mit dem Prozess sind unklar und stark umstritten. Boëthius beteuerte seine völlige Unschuld, und die antiken Quellen (auch Prokopios) teilen einhellig diese Auffassung. Für eine Beurteilung ist zu beachten:

  • Es ist nicht zu bezweifeln, dass Boëthius und sein ebenfalls angeklagter und hingerichteter Schwiegervater sich als Römer betrachteten, d.h. dass ihre Loyalität dem Senat und der römischen Reichsidee, nicht dem König und der Gotenherrschaft galt.
  • Es ist möglich, aber nicht bewiesen, dass Boëthius seine Stellung nutzte, um zu versuchen, die Anklage gegen Albinus zu verhindern und die Angelegenheit zu vertuschen.
  • Nach den Angaben des Boëthius, die von anderen Quellen gestützt werden, wurde er in Abwesenheit verurteilt und erhielt keine Gelegenheit, sich angemessen zu verteidigen. Das Gericht tagte in Rom, während er in Pavia im Gefängnis saß.
  • Boëthius behauptet, dass seine Gegner gefälschte Briefe als Beweismaterial vorlegten.
  • Formalrechtlich war Theoderich an dem Verfahren und Urteil nicht beteiligt, aber es ist anzunehmen, dass der Vollzug eines Todesurteils gegen eine Persönlichkeit dieses Ranges dennoch eine politische Entscheidung des Königs – und sei es nur die, demonstrativ nicht in das Verfahren einzugreifen – voraussetzte.

[Bearbeiten] Werke

Er verfasste als erster Christ Lehrbücher zu den artes. Das große Projekt des Boëthius, die Hauptwerke Platons und des Aristoteles durch Übersetzungen und Kommentare der lateinischsprachigen Welt zugänglich zu machen, blieb unvollendet.[3] Wegen seines vorzeitigen gewaltsamen Todes kamen nur einige Aristotelesübersetzungen und Kommentare zustande. Dabei handelte es sich um einen Teil der Schriften zur Logik (Organon), die Logica vetus. Bis ins 12. Jahrhundert blieben diese Übertragungen die einzigen in der lateinischsprachigen Welt verfügbaren Schriften des Aristoteles. Da Griechischkenntnisse im Westen seit dem Frühmittelalter fast nirgends mehr vorhanden waren, war es sein Verdienst, einen Teil der antiken griechischen Philosophie dem lateinischen Mittelalter erhalten zu haben. Boëthius war damit einer der wichtigsten Vermittler antiker Wissenschaft in das Abendland. Er übersetzte und kommentierte auch die Isagoge, die Einführung des Porphyrius in die aristotelische Logik, die im Mittelalter das wichtigste einführende Handbuch der Logik wurde.

Philosophische Termini wie principium, substantia, subiectum usw. gehen maßgeblich auf Boëthius' Übertragung aristotelischer Begriffe ins Lateinische zurück. Neben seiner Arbeit als Übersetzer und Kommentator verfasste Boëthius auch eigene Schriften, hauptsächlich über Syllogismen, aber auch über Mathematik und Musik. Seine Schrift De institutione musica vermittelte der mittelalterlichen Musiktheorie die antike griechische Harmonik, darunter auch alt-pythagoreische Fragmente, etwa von Philolaos, die sonst verschollen wären, und Euklids Tonsystem, auf dem später Odo die noch heute gültigen Tonbuchstaben aufbaute.

Außerdem schrieb er theologische Traktate, deren Echtheit früher zu Unrecht bezweifelt wurde. Dazu gehört die hochkonzentrierte kleine Schrift De hebdomadibus über den Unterschied von göttlichem Sein (esse) und allem geschöpflich daran partizipierenden Seienden (ens). Dieser im wesentlichen neuplatonische Traktat wurde neben dem geistesverwandten arabisch-lateinischen Proklos-Auszug Liber de causis in der Scholastik stark beachtet. Die Schrift ist Teil der so genannten Opuscula sacra, die Boëthius zwischen 512 und 523 verfasste und in der er Probleme der Theologie philosophisch untersuchte.


[Bearbeiten] Der Trost der Philosophie

Boethius in Gefangenschaft (Abb. aus einem italienischen Exemplar des Trosts der Philosophie, 14. Jahrhundert)
Boethius in Gefangenschaft (Abb. aus einem italienischen Exemplar des Trosts der Philosophie, 14. Jahrhundert)

Sein Hauptwerk, Der Trost der Philosophie, Consolatio philosophiae (auch: Philosophiae consolationis [libri quinque] oder De consolatione philosophiae), entstand erst nach seiner Inhaftierung. Mit der Gestaltung als Prosimetrum (Prosaerzählung unterbrochen von Verspartien in verschiedenen Versmaßen) griff Boëthius eine in der Spätantike beliebte Form auf (vgl. Martianus Capella). Maßgebliche Thesen, die Boëthius hier vertritt, sind: Ewigkeit ist nicht lediglich Unendlichkeit (im Sinne einer zeitlichen Abfolge), sondern das Zugleich von Allem (consolatio V, 6); der freie Wille des Menschen ist mit der Vorsehung vereinbar; Erkennen geschieht in der Weise des Erkennenden (consolatio V, 4). Der Trost war im Mittelalter außerordentlich beliebt, wurde oft kommentiert und in die Volkssprachen übersetzt. So kommentierte etwa Notker III. das Werk in althochdeutscher Prosa unter reicher Verwendung lateinischer und griechischer Fremdwörter.

Das Werk wurde teils als Ausdruck einer Abkehr des Boëthius vom Christentum gedeutet, da er nirgends auf den Glauben Bezug nimmt, sondern zentrale metaphysische und ethische Fragen ausschließlich im Sinne der antiken philosophischen Tradition (vor allem des Neuplatonismus) behandelt. Sein Gottesbegriff entspricht dem Begriff des Einen, der höchsten Hypostase des neuplatonischen Systems. Die Frage, inwieweit eine solche Haltung angesichts des bevorstehenden Todes mit dem kirchlichen Glauben vereinbar war und wie sich die persönliche Religiosität des Boëthius entwickelt hat, ist seit langem umstritten. Allerdings wird in der neueren Forschung betont, dass das Werk auch keine Bezüge enthält, die gegen das Christentum sprechen, zumal das spätantike Christentum schon früh neuplatonische Bezüge enthielt und es nahe liegen würde, wenn ein klassisch gebildeter Autor auf eben diese Stilmuster zurückgriff. Boëthius trennte die Vernunft vom Glauben, so dass manche Forscher vermuten, dass er vor allem sein philosophisches Werk, nicht seinen Glauben rechtfertigen wollte.[4]

Das Hauptstück der Consolatio ist der Teil vom neunten Gedicht des dritten Buches („O, qui perpetua …“) bis zum Ende des dritten Buches, in dem Boëthius das Einheitsproblem behandelt und sein Fundament für die weiteren Argumentationen legt. Das neunte Gedicht ist im wesentlichen eine Paraphrase des ersten Teils des platonischen Timaios.

[Bearbeiten] Rezeption

Die Ettikettierung „der letzte Römer und der erste Scholastiker“ geht auf den Humanisten Lorenzo Valla zurück, der Boëthius allerdings gelegentlich auch skeptisch gegenüberstand wegen dessen unklassischer Ausdrucksweise sowie der Bevorzugung von Philosophie und Theologie vor den Musen, die auf Plato zurückgeht, der die Dichtkunst insgesamt aus seinem Idealstaat verbannt sehen wollte. Den Gelehrten der Renaissance, die wie Petrarca den Aufbruch in ein neues, an antiken Werten orientiertes Zeitalter herbeiwünschten, galt das von Boëthius überkommene Wissen zu Arithmetik, Musik und Dialektik, das den Schulbetrieb des Mittelalters dominiert hatte, als zu angestaubt. So gab bereits Johannes von Salisbury in seinem Metalogicon (1159) gleichzeitig seiner Bewunderung und seinem Missfallen gegenüber der maßgeblich auf Boëthius zurückgehenden, von Zeitgenossen mit ebenso viel Perfektion wie wenig Innovation praktizierten dialektischen Methode Ausdruck.[5]

[Bearbeiten] Textausgaben

[Bearbeiten] Literatur

  • G. Pietzsch: Die Klassifikation der Musikd von B. bis Ugolino v. Orvieto, 1929
  • Henry Chadwick: Boethius: The Consolations of Music, Logic, Theology and Philosophy. Oxford 1981 (unverändert nachgedruckt ebendort 1983, 1990, 1992, 2003; London 1998).
  • Manfred Fuhrmann, Joachim Gruber (Hgg.): Boethius. Darmstadt 1984, ISBN 3-534-07059-3 (Aufsatzsammlung; die ersten drei Aufsätze behandeln eingehend den Prozess und Tod des Boëthius).
  • Joachim Gruber: Kommentar zu Boethius, De Consolatione Philosophiae. 1. Aufl. de Gruyter, Berlin und New York 1978; 2. erweiterte Aufl. Berlin und New York 2006 (grundlegender Kommentar).
  • R. Lösch: Severinus Boëthius. Trost der Philosophie. Vermächtnis und Verhängnis eines Philosophen. 1998.
  • Lorenzo Pozzi: Boethius. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 7, S. 18–28.
  • V. Schmidt-Kohl: Die neuplatonische Seelenlehre in der Consolatio Philosophiae des Boëthius. 1965.
  • Anja Heilmann :Boethius' Musiktheorie und das Quadrivium. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007,ISBN 978-3-525-25268-0 (Eine Einführung in den neuplatonischen Hintergrund von „De institutione musica“).
  • F. Nitzsch: Boëthius, Anicius Manlius Severinus. In: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche (RE). 3. Auflage. Bd. 3, Hinrichs, Leipzig 1897, S. 277–278.

[Bearbeiten] Weblinks

Wikiquote
 Wikiquote: Boëthius – Zitate

[Bearbeiten] Anmerkungen

  1. Gewöhnlich stellte jeder Reichsteil (also West und Ost) einen Konsul. Auch nachdem das Westreich 476/80 untergegangen war und zunächst Odoaker und dann die Ostgoten über Italien herrschten, hielt man formal an diesem Muster fest.
  2. Sie war durch das so genannte Akakianische Schisma unterbrochen worden.
  3. Ob er jedoch wirklich nach Athen reiste und dort Griechischunterricht erhielt, wie teils vermutet, ist eher unwahrscheinlich. Vgl. Pozzi, Boethius, in: TRE 7, S. 18; Gruber, Kommentar, 1. Aufl. 1978, S. 2.
  4. Zusammenfassend Pozzi, Boethius, in: TRE 7, S. 24f.
  5. Chadwick (1981), S. XI.


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