Nuestra América
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[Bearbeiten] Das lateinamerikanische Selbstverständnis in Nuestra América
José Martí beschreibt die Last der kolonialen Vergangenheit. Das hispanische Amerika steht in untrennbarer Verbindung mit der europäischen Zivilisation, dies jedoch vor dem Hintergrund einer andersartigen Realität. Die koloniale Vergangenheit ist weiterhin ein Hemmnis für eine eigenständige Entwicklung. Mit der Ankunft der Europäer auf dem amerikanischen Kontinent hatte sich ein seltsames, fremdes Volk herausgebildet, nicht spanisch und nicht eingeboren sondern mestizisch. Die Wiederherstellung und Entfaltung der eigenen Seele kann durch die Rückeroberung der Freiheit gewonnen werden. Deshalb ist es Martís Ziel Rivalität in Solidarität und Selbstentfremdung in Selbstbewusstsein umzuformen. Die Kenntnis der Vergangenheit ist notwendig für die lateinamerikanischen Völker zum Verständnis der Gegenwart und für den richtigen Weg in die Zukunft.
Martí misst allen ethnischen und kulturellen Gruppen die gleiche Bedeutung zu. Für die Identität Amerikas bildet das indianische Element einen wichtigen Baustein. Die indianischen Kämpfer wie z.B. Cuauhtémoc waren für ihn die Ahnen derer Amerikaner, die für die Unabhängigkeit kämpften. Demnach fordert er auch für Cuba das Erbe der indigenen Kulturen, jedoch nicht aus einer pittoresken Verklärung der Vergangenheit heraus wie z.B. bei Rubén Darío. Ein neues, freies Amerika soll auf Grundlage „natürlicher“ Elemente errichtet werden und nicht auf auswärtige Modelle zurückgehen.
Als in Kuba geborener Sohn spanischer Einwanderer, war Martís Bezug zu Spanien nicht von Hass geprägt. Er unterschied zwischen dem offiziellen, rückschrittlichen und repressiven Spanien der herrschenden Klassen und dem spanischen Volk. Dies ist selbst Opfer des Kolonialismus und hat demnach auch Anspruch auf Befreiung. Die Spanier, die für eine glückliche Zukunft Cubas einstehen, haben dasselbe Recht auf Mitgestaltung des Landes und Gleichberechtigung. Aus dieser Haltung resultierte ein Konflikt in Martís Werk und Leben, betrachtete er doch auf der anderen Seite den Krieg gegen Spanien als naturgesetzliche Notwendigkeit. Den Krieg gegen die spanische Republik 1873 empfand Martí als doppelten Brudermord, da er sich zum einen mit der Regierungsform der Republik identifizierte und zum anderen mit dem spanischen Brudervolk.
Der Entfaltung Lateinamerikas stehen bestimmte Schwierigkeiten gegenüber. Zum einen nennt Martí den Gegensatz von Stadt und Land. In den urbanen Zentren, die sich an Europa orientieren, entsteht eine intellektuelle Minderheit, die über Politik und Wirtschaft bestimmt. Im Gegenzug bleibt der Feudalcharakter in den ländlichen Regionen erhalten. Zum anderen besteht ein rassischer und kultureller Gegensatz. Im Unterschied zum argentinischen Präsidenten Sarmiento, der seine Auffassung des kulturellen Gegensatzes zwischen Stadt und Land in der Formel „civilización o barbarie“ unterbringt, sieht Martí den Unterschied zwischen falscher Gelehrsamkeit und Natur. Die Natur hat die Leitfunktion neue Entwicklungsformen zu schaffen, anstatt bestehende „moderne“ Gesellschaftsformen zu übernehmen. Sein Konzept, welches das mestizische Amerika als Ausgangspunkt nimmt, sieht die Schaffung etwas Eigenen in Lateinamerika Verwurzelten unter Einbeziehung von außen kommender Einflüsse vor. Eine imitación bezogen auf Europa ist nicht erwünscht, eine Neuerschaffung ist gefragt; creación ist imitación vozuziehen. Martís Hauptforderungen sind demnach die Eigenständigkeit Lateinamerikas und die Vertreibung der dekadenten, europäischen Oberschichten.
