Selbsterfüllende Prophezeiung
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Die selbsterfüllende Prophezeiung ist eine Vorhersage, die sich erfüllt, nur weil sie von einem sozialen Akteur geäußert und von anderen aufgenommen worden ist. Sie ist also eine besondere Ursache der Folgen, von denen sie spricht. Eine typische Anwendungsform ist zum Beispiel das als Vorhersage getarnte gezielte Gerücht.
Auch ohne diese besondere Ursache können die vorhergesagten Folgen eintreten, müssen es aber keinesfalls. Besonders können von Vielen geteilte Erwartungen eine eigene soziale Wirkungskraft entwickeln. Ein Beispiel, das Kritiker des Horoskopwesens häufig anführen, ist, dass Vorhersagen, etwa Du wirst in dieser Woche eine junge Frau näher kennenlernen oder Dir droht diese Woche ein Verkehrsunfall zu einer Änderung des Verhaltens derer führen könnten, die daran glauben: Sie sprechen zum Beispiel mutiger als sonst jemanden an oder fahren vorsichtiger. Damit werde also nicht bewiesen, dass Horoskope real beweisbare gültige Voraussagen seien.
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[Bearbeiten] Wissenschaftliche Theorie der selbsterfüllenden Prophezeiung
Die selbsterfüllende Prophezeiung wurde zuerst von Robert K. Merton (1948) in die soziologische Debatte eingebracht, ebenso wie ihr logisches Gegenstück (self-destroying prophecy, „selbstzerstörende Prophezeiung“).
Sie ist grundsätzlich von der Prognose in den Naturwissenschaften zu unterscheiden. Denn das Objekt einer soziologischen oder psychologischen Vorhersage kann selber ein sozial handelndes Subjekt sein, weil es die Voraussage mitzuhören und darauf zu reagieren vermag. So kann eine 'falsche' Prognose (etwa: "'Morgen geht die XYZ-Bank pleite!") dazu führen, dass die vollkommen solide XYZ-Bank durch einen jähen Abzug aller Gelder ihrer Gläubiger insolvent wird und falliert. Umgekehrt kann eine solide Voraussage (etwa: "Im Hauptbahnhof wird um 12:00 Uhr eine Bombe hochgehen!") durch rechtzeitige Nachsuche und Entschärfung der tatsächlich vorhandenen Bombe falsch werden.
In beiden Fällen ist also das Eintreten oder Nichteintreten der soziologischen Voraussage noch nicht ihre Rechtfertigung bzw. Widerlegung. Praktisch ist dies zum Beispiel ein Alltagsproblem der Demoskopie unter anderem bei Wahlprognosen und des Warnwesens, sogar der Geheimdienste. Daraus folgt, dass – zumindest auf den ersten Blick – solide soziologische Vorhersagen von unfundierten oder gar Scharlatanerien nicht leicht zu unterscheiden sind.
Theoretisch wird ein ungewöhnlich schwieriges Problem aufgeworfen, weil in den Prognosen der experimentalen Naturwissenschaften durch die genaue Einhaltung einer Versuchsanordnung die uns geläufige zweiwertige Logik oft reicht: Die Prognose ist dann je nach Versuchsausgang entweder wahr oder falsch (W|F). Für die Prognose in den Sozialwissenschaften wird aber zur Aufnahme aller Optionen der hörenden Betroffenen eine erkenntnistheoretisch mehr-als-zweiwertige Logik wie zum Beispiel die Güntherlogik benötigt.
Beispiel: Auf die Prognose, ein Schiff werde morgen nach der Ausfahrt kentern, kann der Kapitän damit reagieren, dass er sich diesem „Entweder-Oder“ von Kentern|Nichtkentern gar nicht stellt, sondern eine dritte Option wählt, nämlich im Hafen liegen bleibt - ein bereits von Aristoteles überlegtes Beispiel: Wie das logisch fassen? Günther setzt hier neben "W" und "F" den dritten Wert "V" ein.
[Bearbeiten] Selbsterfüllende Prophezeiung und Attraktivitätsstereotyp
[Bearbeiten] Allgemeines
Im Bereich der Differentiellen Psychologie (Differentielle und Persönlichkeitspsychologie) taucht die selbsterfüllende Prophezeiung auch im Zusammenhang mit dem Attraktivitätsstereotyp (Was schön ist, ist auch gut) auf. Hierzu führten die Psychologen Mark Snyder, Ellen Berscheid und Elizabeth Decker Tanke 1977 eine Studie durch, die 1981 von den Psychologinnen Susan M. Andersen und Sandra Lipsitz Bem erweitert wurde. Die Studie soll zeigen, dass Stereotype aus dem Bereich der Attraktivitätsforschung zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden können. Aufgrund des vorherrschenden Stereotyps der physischen Attraktivität werden attraktiven Menschen mehr sozial erwünschte Charakterzüge wie Aufgeschlossenheit, Freundlichkeit und Geselligkeit zugeschrieben. Studien besagen, dass daher attraktive Menschen von ihren Mitmenschen entsprechend – ebenfalls offen, freundlich - behandelt werden und dementsprechend mit einem ähnlichen Verhalten reagieren, wodurch sie den Stereotyp bestätigen. Diese Verkettung kann man dann als selbsterfüllende Prophezeiung bezeichnen.
[Bearbeiten] Studie von Snyder, Berscheid, Tanke (1977)
[Bearbeiten] Durchführung
Die Probanden waren 51 männliche und 51 weibliche Studenten, die sich untereinander nicht kannten. Aufgabe der Probanden war es, ein 10-minütiges Telefongespräch mit einem andersgeschlechtlichen Probanden zu führen. Die männlichen Probanden bekamen einen Fragebogen mit kurzen Informationen, den die Telefonpartnerin vorher ausgefüllt hatte. Dazu erhielten sie ein Foto, das angeblich die Telefonpartnerin darstellte. Tatsächlich waren es Fotos von Frauen, die zuvor nach Attraktivität bewertet worden waren. Die eine Hälfte der männlichen Probanden bekam die Fotos mit der besten Bewertung, die andere Hälfte erhielt die Fotos, die am schlechtesten bewertet worden waren. Vor dem Telefongespräch füllten die männlichen Probanden einen Fragebogen bezüglich des ersten Eindrucks der Telefonpartnerin aus, bei dem es um Attribute wie Intelligenz, physische Attraktivität und Freundlichkeit ging. Das folgende Telefonat wurde aufgezeichnet und anschließend von Psychologiestudenten analysiert, die nicht über die Hypothese und den tatsächlichen Hintergrund des Experiments informiert wurden. Bei der Analyse bewertete eine Gruppe nur die weibliche Tonspur, eine andere Gruppe nur die männliche.
[Bearbeiten] Ergebnis
Die Analyse der Fragebögen ergab, dass die männlichen Probanden bezüglich ihres ersten Eindrucks von allgemeinen Stereotypen beeinflusst wurden. Die Männer, die ein Foto einer als attraktiv bewerteten Frau erhalten hatten, erwarteten eine kontaktfreudige, humorvolle und aufgeschlossene Telefonpartnerin. Die Erwartung der Männer, die ein Foto einer als unattraktiv bewerteten Frau erhalten hatten, war dementsprechend negativ. Die Analyse der Tonspuren zeigte, dass die Frauen, die von ihrem Telefonpartner für attraktiv gehalten wurden, bei den bewertenden Psychologiestudenten den Eindruck erweckten selbstbewusst zu sein, die Konversation zu genießen und den Telefonpartner zu mögen. Das Gegenteil galt für die Frauen, die von ihrem Telefonpartner für unattraktiv gehalten wurden. Weiter konnte festgestellt werden, dass die männlichen Probanden, die ein Foto einer attraktiven Frau erhalten hatten, bei den Bewertern den Eindruck hinterließen, attraktiver und selbstbewusster zu sein, als die männlichen Probanden, die ein Foto einer unattraktiven Frau erhalten hatten.
[Bearbeiten] Fazit
Das Ausmaß der Kontaktfreudigkeit und Offenheit, das von den männlichen Probanden ausging, bestimmte die Erwiderung solchen Verhaltens seitens der weiblichen Probanden. Die Interaktion wurde insofern von Stereotypen geleitet, als diese ihre eigene soziale Realität kreieren. Der Attraktivitätsstereotyp ist so stark, dass er zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden kann. Unsere Erwartung an eine attraktive Person hinsichtlich ihrer Geselligkeit, Offenheit und Freundlichkeit kann dazu führen, dass wir selbst offener und kontaktfreudiger auf diese Person zugehen und ihr Verhalten lediglich eine Reaktion auf unser Verhalten ist, wobei der Stereotyp wiederum durch diese Reaktion bekräftigt wird.
[Bearbeiten] Studie von Andersen und Bem (1981)
[Bearbeiten] Durchführung
Diese Studie stellt eine Erweiterung der Studie von Snyder, Berscheid und Tanke dar. Im Gegensatz zum oben erläuterten Experiment gab es in der Untersuchung von Andersen und Bem nicht nur Telefongespräche zwischen männlichen und weiblichen Probanden, sondern auch zwischen gleichgeschlechtlichen. Hier sollte der Frage nachgegangen werden, ob sich Männer und Frauen bezüglich der Bereitschaft, andere Menschen aufgrund ihrer physischen Attraktivität zu beurteilen, unterscheiden, das heißt inwieweit sie sich vom Stereotyp der physischen Attraktivität in ihrem Verhalten beeinflussen lassen. Des weiteren wollte man untersuchen, ob diese Bereitschaft bei einer Interaktion zwischen einem männlichen und einem weiblichen Probanden (cross-sex Interaction) größer ist als bei einer gleichgeschlechtlichen Interaktion (same-sex Interaction). Darüber hinaus nahmen an der Studie sowohl geschlechtstypische als auch androgyne Probanden teil. Damit sollte festgestellt werden, inwieweit sich diese beiden Gruppen bezüglich der oben erwähnten Bereitschaft unterscheiden. Ansonsten war der Ablauf vergleichbar; die Probanden füllten Fragebögen aus, einer der Telefonpartner hatte vor dem 10-minütigen Telefongespräch zusätzlich zu dem Fragebogen des Partners ein Foto erhalten, das angeblich den Partner abbildete, die Gespräche wurden aufgezeichnet und tonspurweise analysiert.
[Bearbeiten] Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse
Bei der Untersuchung stellte sich zunächst heraus, dass sich Frauen generell – unabhängig von ihrer Attraktivität – responsiver, also aufgeschlossener und aufmerksamer, verhielten als Männer. Wie auch in der Studie von Snyder, Berscheid und Tanke kamen Andersen und Bem zu dem Ergebnis, dass das Verhalten der Probanden, die ein Foto erhalten hatten, von der angenommenen Attraktivität des Partners beeinflusst wurde; Probanden, die ihren Telefonpartner für attraktiv hielten, wurden von den Studenten, die die Gespräche später analysierten, als interessierter und enthusiastischer beurteilt, als die Probanden, die ihren Telefonpartner für unattraktiv hielten. Dies gilt sowohl für cross-sex- als auch same-sex-Interaktionen, wobei dieses Verhalten bei männlichen geschlechtstypischen Probanden bei cross-sex-Interaktionen stärker ausgeprägt war. Männliche androgyne Probanden schienen nicht unterschiedlich auf angeblich attraktive und angeblich unattraktive Telefonpartner zu reagieren. Weibliche androgyne Probanden tendierten dazu angeblich unattraktive Telefonpartner als sozial attraktiver einzuschätzen als angeblich attraktive Telefonpartner, sie tendierten also dazu den Stereotyp der physischen Attraktivität zu entkräften.
[Bearbeiten] Erklärungsansatz
Forschungen haben ergeben, dass geschlechtstypische Individuen eher in der Lage sind, Informationen bezüglich geschlechtsspezifischen Attributen zu ordnen; sie wählten beispielsweise bei Untersuchungen zu Freizeitaktivitäten überwiegend Aktivitäten für sich aus, die geschlechtstypisch oder neutral waren. Geschlechtstypische Individuen neigen also eher als androgyne Individuen dazu, Informationen bezüglich kultureller Definitionen von Männlichkeit und Weiblichkeit zu verarbeiten. Deswegen scheinen geschlechtstypische Individuen eher als Androgyne mit anderen Menschen auf eine Art zu interagieren, die mit den kulturellen geschlechtsspezifischen Definitionen von physischer Attraktivität übereinstimmt, also ein offeneres Verhalten gegenüber physisch attraktiven Menschen und umgekehrt.
[Bearbeiten] Siehe auch
- Kluger Hans
- Pygmalioneffekt
- Placebo
- Nocebo-Effekt
- Positive Teststrategie
- Baskerville-Effekt
- Thomas-Theorem
- Attraktivität
- Attraktivitätsforschung
[Bearbeiten] Literatur
- Aronson, E./Wilson, T. D./Akert, R. M. (2004). Sozialpsychologie, 4. aktualisierte Ausgabe, Pearson Studium
- Clausen, Lars: Zur Asymmetrie von Prognose und Epignose in den Sozialwissenschaften. In: Ders.: Krasser sozialer Wandel, Opladen (Leske + Budrich) 1994, ISBN 3-810-01141-X
- Merton, R. K. (1948). The self-fulfilling prophecy. The Antioch Review, 8, 193-210.
- Merton, Robert K.: Soziologische Theorie und soziale Struktur. Berlin 1995 [engl. Orig. 1949], S.399-413
- Schnepper, Markus: Robert K. Mertons Theorie der self-fulfilling prophecy. Frankfurt a. M. u. a. (Peter Lang) 2004, ISBN 3-631-52420-X
- Schachinger, Helga, Das Selbst, die Selbsterkenntnis und das Gefühl für den eigenen Wert. 2005, ISBN 3-456-84188-4
- Snyder, M./Tanke E. D./Berscheid, E.: Social perception and interpersonal behavior. On the self-fulfilling nature of social stereotypes. In: Journal of Personality and Social Psychology, 1977, 35 (9), S. 656-666.
- Watzlawick, Paul: Anleitung zum Unglücklichsein. Piper, 1988, ISBN 3-492-22100-9