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Kirchenzucht – Wikipedia

Kirchenzucht

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Kirchenzucht ist ein im Protestantismus verwendeter Begriff, unter dem vielfältige Bemühungen zur Sicherstellung der kirchlichen Ordnung und Lehre zusammengefasst werden.

Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Formen

Mögliche Maßnahmen zur Sicherstellung der kirchlichen Ordnung und Lehre umfassen eine breite Palette, angefangen von der Abmahnung (etwa eines kirchlichen Amtsträgers) bis hin zur Aberkennung von kirchlichen Rechten (z.B. Ausschluss vom Abendmahl). Praktisch werden Maßnahmen der Kirchenzucht aber kaum noch geübt (eine seltene Ausnahme stellt der von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommene Konflikt um den Göttinger Theologen Gerd Lüdemann dar). Allenfalls in freikirchlichen Gemeinden spielen kirchliche Disziplinarmaßnahmen noch eine Rolle.

[Bearbeiten] Begründung

In der protestantischen Kirchengeschichte kommt der Kirchenzucht vor allem in den reformierten Kirchen eine wichtige Bedeutung zu. Teile der reformierten Theologie sehen in ihr (neben der Wortverkündigung und der Sakramentsverwaltung) ein drittes, zwingendes Merkmal einer Kirche (eine nota ecclesiae). Die Hochschätzung der Kirchenzucht in reformierten Kirchen geht insbesondere auf Martin Bucer und Johannes Calvin zurück. Ihre theologische Begründung wurzelt im Neuen Testament, und zwar besonders in Matthäus 18,15-17[1]. Wichtige Impulse gehen aber auch von Paulus aus[2].

[Bearbeiten] Wirkungsgeschichte

Subjekt der Kirchenzucht ist ihrer theologischen Begründung nach die christliche Gemeinde (vgl. Matthäus 18,17; 1. Korinther 5,13). Durch die fehlende Trennung zwischen Kirche und Staat in den meisten protestantischen Territorien hat der Staat bestimmte Aspekte der Kirchenzucht für bürgerliche Ordnungsvorstellungen instrumentalieren können.

[Bearbeiten] Frühe Neuzeit

In der frühen Neuzeit wurden die bürgerlichen Moralvorstellungen allgemein restriktiver. In vielen Territorien versuchten Landesherren ihr Kirchenregiment zu nutzen, um mit Hilfe der Kirchenzucht eine strengere Ehe- und Sexualmoral durchzusetzen. Dabei spielten nicht nur konfessionelle Unterschiede eine Rolle, sondern auch das Verhältnis zwischen kirchlichen und obrigkeitlichen Sanktionen schwankte.

Beispielsweise mussten nach einer Verordnung von 1708 die Eltern nichtehelicher Kinder in der Oberen Grafschaft Wied-Runkel bei der Taufe, die erst nach drei Wochen nach der Geburt stattfinden durfte, 2 Gulden Kirchenstrafe zahlen und öffentlich Kirchenbuße leisten. Die herrschaftliche Strafe betrug zusätzlich für beide Elternteile jeweils 6 Reichstaler (entspricht 9 Gulden), wobei bis 1796 die Gesamtsumme von der Mutter zu zahlen war, wenn der Vater nicht ermittelt werden konnte; für den Wiederholungsfall wurden zusätzliche obrigkeitliche Strafen in Aussicht gestellt

[Bearbeiten] Absolutismus

Im 18. Jh. wurden die Kirchenbußen in vielen deutschen Territorien in einer auf Fiskalisierung der Kirchenzucht abzielenden Strategie durch erhöhte staatliche Geldstrafen abgelöst. Die Aufrechterhaltung von Sitte und Anstand wurde statt als eine Frage der Kirchenzucht zunehmend als eine Aufgabe der öffentlichen „Polizei“ angesehen. Dieses Phänomenen der Ablösung kann als politisches und soziales Ergebnis des Absolutismus verstanden werden, das auf eine „Sozialdisziplinierung“ mit der Internalisierung von Tugenden wie Arbeitsamkeit, Fleiß, Selbstbeherrschung, Gehorsam, Disziplin etc abzielte. Diese Vorstellung wirkt bis dahin nach, dass Straftatbestände wie „Ehebruch“ (§ 172 StGB a. F.) und andere „unzüchtige Handlungen“ in der Bundesrepublik Deutschland erst durch das 1. StrRG vom 25. Juni 1969 oder „Kuppelei“ (§ 180 StGB a. F.), z. B. gegenüber Verlobten, erst durch das 4. StrRG vom 23. November 1973 beseitigt wurden.

[Bearbeiten] siehe auch

[Bearbeiten] Anmerkungen

  1. „Sündigt aber dein Bruder an dir, so geh hin und weise ihn zurecht zwischen dir und ihm allein. ... Hört er ... nicht, so sage es der Gemeinde.“ [1]
  2. 1. Korintherbrief, Kapitel 5: „Ausschluss der Unzüchtigen aus der Gemeinde“ [2]

[Bearbeiten] Quellen

  • Johann J. Scotti (Hg.), Sammlung der Gesetze und Verordnungen, welche in den ... nunmehr königlich preußischen – Landesgebieten über Gegenstände der Landeshoheit, Verfassung, Verwaltung und Rechtspflege ergangen sind, Band V/1. Wied-Neuwied und Wied-Runkel, 1836

[Bearbeiten] Literatur

  • Gerhard Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus. In: VSWG 55 (1969), S. 329-347
  • John H. Leith / Hans-Jürgen Goertz: Kirchenzucht. In: Theologische Realenzyklopädie, Band 19 (1990), S. 173-191.
  • Heinz Schilling (Hrsg.): Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 16), Berlin 1994. ISBN 3-428-07981-7
  • Frank Konersmann, Kirchenregiment und Kirchenzucht im frühneuzeitlichen Kleinstaat (SVRKG 121), Düsseldorf 1996

[Bearbeiten] Weblinks

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