Jacques Maritain

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Jacques Maritain (* 18. November 1882 in Paris; † 28. April 1973 in Toulouse) war ein französischer Philosoph und ein Schüler von Henri Bergson.


Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Überblick

Während seines Studiums an der Sorbonne kam er mit dem Gedankengut von Thomas von Aquin in Berührung, das im Mittelpunkt der meisten seiner zahlreichen Publikationen steht. 1906 trat er der katholischen Kirche bei. Maritain gilt als einer der Führer des Neuthomismus - und das, obgleich er sich stets dagegen wehrte, als „Neuthomist“ bezeichnet zu werden. Er hat durch seine Arbeit maßgeblich die Philosophie des französischen Personalismus beeinflusst.

In den 1930-er Jahren hielt er sich verschiedentlich zu Gastvorlesungen in den USA auf. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges entschied er, in Nordamerika zu bleiben. Er lehrte in Toronto, Kanada, an der Princeton University in Princeton, New Jersey und an der Columbia University in New York City. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er französischer Botschafter im Vatikan und wirkte am Text der UN-Menschenrechtscharta mit. Von 1948 bis 1960 lehrte er als emeritierter Professor an der Princeton University und kehrte anschließend nach Frankreich zurück. Als seine Frau Ende 1960 starb, lebte er bis zu seinem Tode in einem Kloster.

Die große Anerkennung, die sich Maritain in den USA erwarb, dokumentiert sich in dem an der University of Notre Dame in South Bend, Indiana, USA bestehenden Jacques Maritain Center.

Dem christlichen Denken von Maritain wird großer Einfluss auf die katholische Kirche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zugebilligt, da sein integraler Humanismus (Buchtitel von 1936) den Dialog mit der Moderne vorbereitet habe, den das II. Vatikanum der Kirche zur Aufgabe gemacht hat.


[Bearbeiten] Maritain im Detail

[Bearbeiten] Vorthomismus

[Bearbeiten] Ausbildung und Beginn

Geboren wurde M. am 18. November 1882 in Paris. In seiner vorthomistischen Phase (1882-1910) wandte sich M., da er nach Lebenssinn stiftender absoluter Wahrheit suchte, vom liberal-relativistischen Protestantismus seiner Familie ab und ließ sich 1906 mit seiner Frau Raïssa (1883-1960) mit Léon Marie Bloy als Pate in die katholische Kirche aufnehmen. Zunächst frustriert durch die positivistischen und antimetaphysischen Strömungen an der Sorbonne, an der er von 1900-1906 Philosophie und Naturwissenschaften studierte, fand er in der Philosophie von H. Bergson einen grundsätzlichen Zugang zum Absoluten. Als er dessen anti-intellektuellen Ansatz durchschaute, kam ihm ein Stipendium der Biologie sehr entgegen, das ihm 1906-1908 in Heidelberg bei Hans Driesch die Möglichkeit bot, die Philosophie fürs Erste ruhen zu lassen. Dies änderte sich schlagartig, als M. ab dem Herbst 1910 mit dem Studium der Summa Theologiae begann.

[Bearbeiten] Kritik an Bergson und erste Werke

Mit dem Übereifer eines Neophyten zeigte M. 1914 mit seinem ersten Buch („La Philosophie bergsonienne“) schonungslos die Widersprüche in Bergsons Denken durch eine Gegenüberstellung mit der thomistischen Philosophie auf. Von da an versuchte M. einerseits, die Grundbegriffe des hl. Thomas und der klassischen Metaphysik in verschiedenen Bereichen fruchtbar zu machen, so u.a. in der Philosophiegeschichte („Antimoderne“ 1922; „Trois Réformateurs“ 1925), in der Ästhetik („Art et Scolastique“ 1920; „Frontières de la poésie“ 1926), in Fragen der Spiritualität („De la vie d’oraison“ 1925; „Primauté du spirituel" 1927). Gleichzeitig stand M. in intensivem Austausch mit Schriftstellern, Künstlern und Denkern verschiedenster Couleur (viele Briefwechsel, u.a. mit Julien Green 1926-1972, „Réponse à Jean Cocteau“ 1926). M.s geistiges Interesse, verstärkt durch seine Professur für moderne Philosophiegeschichte ab 1914 am Institut Catholique, führte zunächst zu einem völligen Aufgehen im Universum der Ideen. Das brachte nach dem Urteil seiner Frau Raïssa eine gewisse Weltfremdheit mit sich, da ihn seine Mitmenschen nur als „Träger abstrakter Theorien“ interessierten. In dieser Phase widmete sich M. vor allem epistemologischen Problemen.

[Bearbeiten] Thomismus

Im Thomismus fand er nicht nur „eine realistische Philosophie des Begriffes“, sondern auch eine metaphysische Waffe, die er vehement gegen Modernismus und Liberalismus einsetzte. Seine blauäugige Sympathie mit der Action Française, forciert durch seinen Beichtvater H. Clérissac, seine Äußerungen gegen den „[Demokratismus]“ und die „egalitäre Utopie“ führten dazu, dass man ihn nicht nur zur extremen Rechten zählte, sondern auch als „Sprecher der kirchlichen Lehre“ sah. Das änderte sich deutlich nach dem Verbot der restaurativ-royalistischen Action Française durch Pius XI. 1926. Indem M. Roms Position verteidigte („Le sens de la condamnation“ 1927; „Clairvoyance de Rome“ 1929), distanzierte er sich zunehmend von konservativen philosophischen wie auch kirchlichen Kreisen. Der damit ausgelöste Prozess führte dazu, sein Denken und Forschen künftig weniger unter den Primat der Wahrheit zu stellen.

Als epistemologisches Hauptwerk und gleichzeitig als großartiger Schlussstrich seiner konzeptualistischen Phase gilt „Les Degrés du savoir“ (1932). Darin zeigte M., wie die verschiedenen Erkenntnisarten aus Naturwissenschaft, Mathematik, Metaphysik und Mystik aufeinander aufbauen und einander ergänzen. Nicht nur an M.s Werken ab 1933 lässt sich ablesen, dass seine dritte Schaffensphase unter dem Primat der Freiheit stand. Denn zunächst suchte er persönlich gegenüber der katholischen Hierarchie eine eigenständigere Position „als christlicher und weniger als apologetischer Philosoph“ einzunehmen. Dabei scheute er sich auch nicht, für das politisch linke Spektrum einzutreten. Er unterstützte den Aufbau der liberalkatholischen Zeitschrift „Sept“ sowie als freier Mitarbeiter die 1935 entstehende linke Wochenzeitung „Vendredi“, die sich rühmte, die bekanntesten Köpfe der Linken zu vereinen. Philosophisch richtete M. sein Augenmerk verstärkt auf die Ontologie, d.h. er untersuchte neben der Essenzordnung intensiv die von ihm bis dahin eher vernachlässigte Existenzordnung („Sept leçons sur l’être“ 1934; „De Bergson à Thomas d’Aquin“ 1944).

[Bearbeiten] Bekenntnis zu Demokratie und Humanismus

Zudem wandte er sich konsequent der praktischen Philosophie zu und beschäftigte sich mit Fragen der Ethik („Science et Sagesse“ 1935; „Saint Thomas et le problème du mal“ 1942) sowie mit den Grundlagen der Politik. Seine Studien prägte ein klares Bekenntnis zur Demokratie und gipfelten bereits 1936 in „Humanisme intégral“, dem Meisterwerk seiner zweiten Phase. Darin legte M. eine Gesellschaftsordnung vor, deren humanistische Grundwerte dem Geist des Evangeliums entsprachen, zugleich aber ohne eine konfessionelle Bindung von Parteien auskamen. Weitere Werke zum Schutz der demokratischen Freiheit und zur Vermeidung von Diktaturen folgten („Les Droits de l’homme et la loi naturelle“ 1942; „Christianisme et démocratie“ 1943; „Principes d’une politique humaniste“ 1944), nicht zuletzt, um vom Naturgesetz her die Rechte der Person allgemein verbindlich definieren und ihre unantastbare Würde durch einen theozentrischen Humanismus schützen zu können.

Seit Mitte der zwanziger Jahre wurde M. europaweit zu Vorträgen eingeladen, 1933 zu ersten Gastvorlesungen nach Toronto und Chicago. Nachdem seine Tätigkeit als Gastprofessor in den USA stetig zunahm, verlegte er (nicht zuletzt aufgrund der Kriegswirren) seinen Wohnsitz ab 1940 nach New York, von wo aus er durch mehr als 100 Artikel und Radioansprachen den Kampf gegen das NS-Regime unterstützte. M.s letzte Schaffensphase (1947-1973), von vielen M.-Kritikern einfach übergangen, war geprägt durch die Erarbeitung eines kohärenten Personalismus. Obwohl M. auf Drängen von Charles de Gaulle 1945-1948 das Amt des Botschafters am Heiligen Stuhl in Rom übernommen hatte, nutzte er jede freie Minute, um die verschiedenen Erkenntnisformen seiner vorigen Phase – die M.s Meinung nach für den Philosophen konstitutive Seins- bzw. Existenzintuition („Sept leçons sur l’être“ 1934), die Erkenntnis durch natürliche Mystik („Quatre essais sur l’esprit“ 1939) sowie die moralischen Entscheidungen vorausgehende Einsicht in die moralische Ordnung („De Bergson à Thomas d’Aquin“ 1944) – weiter zu entfalten und in einem umfassenden System zusammen zu führen.

Umfassend, weil für ihn bis dato nur Erkenntnisformen brauchbar schienen (obwohl er um andere wusste), die zur Essenzebene gehörten und als begriffliche Erkenntnis den verschiedenen Abstraktionsgraden zugeordnet werden konnten. Indem er nun beim menschlichen Erkennen verschiedene Arten konnaturaler Einsichten unterschied, konnte er auch die Erkenntnisformen in seine Epistemologie integrieren, die auf der Existenzebene stattfinden. Damit gelang M. der Durchbruch in der metaphysischen Grundlegung der Person („Court traité“ 1947; „Raison et raisons“ 1947), die nicht länger als suppositum, als Träger der Fakultäten von Intellekt und Wille gesehen wurde. Indem M. die Subsistenz nicht mehr als passiven Status der Unabhängigkeit, sondern als aktive und autonome Ausübung des Existenzaktes definierte, konnte er die Person als neue subsistierende Dimension umschreiben, die um sich selbst weiß (Selbstinnerlichkeit) und über sich selbst verfügt (Selbstand). Selbstand meint für ein geistbegabtes Subjekt, dass es sich nicht in mentalen Operationen erschöpft, sondern einer nie versiegenden Quelle gleicht, die sich in Akten von Erkenntnis und Liebe verströmt. Darum prägte M. den Begriff „geistige Überexistenz“, um damit das Zentrum der Person zu umschreiben, das im Letzten auf unerschöpflichen interpersonalen Austausch angelegt ist.

[Bearbeiten] Mitwirkung an der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte

Bevor er sich weiteren Studien zuwenden konnte, wurde ihm eine andere wichtige Aufgabe übertragen: Er sollte die Leitung der Delegation übernehmen, die Frankreich bei den UNESCO-Sitzungen in Mexiko-City vertrat, wo es einen Entwurf für einen global geltenden Katalog von Menschenrechten auszuarbeiten galt. In den Diskussionen konnte M. auf seinen philosophisch fundierten Katalog von 26 Menschenrechten zurückgreifen („Les Droits de l’homme et la loi naturelle“ 1942) und damit gleichermaßen eine präzise wie übergreifende Bestimmung der eigentlichen personalen Rechte vorlegen. Sein Einfluss in Mexiko kam schließlich darin zum Ausdruck, dass sich 22 der 26 von ihm vorgeschlagenen Rechte in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wiederfanden, die die Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 verabschiedeten. Bereits im Frühjahr 1948 bat M. um seine Entlassung aus dem diplomatischen Dienst und kehrte aus Rom in die USA, seine Wahlheimat, zurück. Indem er in Princeton als Professor emeritus den eigens für ihn eingerichteten Lehrstuhl für Moralphilosophie annahm, war es ihm nun wieder möglich, weitere Aspekte des Existentialismus und Personalismus zu erarbeiten. Dazu gehörten zunächst Ausführungen zum Freiheitsbegriff, zur intuitiven Einsicht in moralische Normen und zum aus moralischem Handeln resultierenden Seinswachstum („La loi naturelle“ 1950; „Neuf leçons sur la philosophie morale“ 1951; „Approches de Dieu“ 1953).

Mit diesen Grundlagen konnte er 1953 in seinem Meisterwerk dieser Phase, „L’Intuition créatrice dans l’art et dans la poésie“, anhand der detaillierten Untersuchung dessen, was sich im Künstler von der auslösenden Inspiration bis zum fertigen Kunstwerk abspielt, ein dynamisches Seelenmodell vorlegen. Darin sind sämtliche Aspekte konnaturaler Erkenntnis, innerpsychischer Vorgänge, schöpferisch-personaler Selbständigkeit und ontologischer Seinsmächtigkeit kohärent integriert. So kann M. sich später auch noch an die Untersuchung der Person Jesu und seiner beiden Naturen wagen („De la grâce et de l’humanité de Jésus“ 1967). Der Lehrstuhl in Princeton ließ M. genügend Freiraum für internationale Vorträge, v.a. in den aufstrebenden Demokratien Lateinamerikas, für Kongresse wie auch für eine Reihe weiterer verschiedenartigster Veröffentlichungen ("Pour une philosophie de l’éducation" 1953; "Le Péché de l’Ange" 1956; "Pour une philosophie de l’histoire" 1957; "Liturgie et contemplation" 1959; "La Philosophie morale" 1960). Durch den Tod seiner Schwägerin Véra (1959), die seit 1907 den gemeinsamen Haushalt versorgt hatte, sowie durch den Tod seiner Frau (1960) geriet M. in eine schwere Krise. Er ließ sich im März 1961 in Toulouse nieder, wo er bis zu seinem Tod bei den von Charles de Foucauld gegründeten Petits Frères de Jésus eine neue geistige Heimat fand und sich eigentlich nur ungestört auf das Sterben vorbereiten wollte.

Wider Erwarten fand er zu neuen Kräften und begann erneut zu publizieren. Auf die persönlichen Aufzeichnungen seiner Frau („Journal de Raïssa“ 1962) folgten seine eigenen Memoiren („Carnet de notes“ 1964). In der Folgezeit ergänzte er viele seiner Werke und Gedanken durch eine Fülle weiterer Artikel und Vorträge („Approches sans entraves“ 1973 posthum). Ebenso präsentierte er eine Zusammenfassung seiner Gedanken, indem er sie unguten Veränderungen in Kultur, Kirche und Politik kritisch gegenüber stellte („Le Paysan de la Garonne“ 1966). Vor diesem Hintergrund kann M.s letzte Schaffensphase kaum als Rückfall ins rechte Lager bezeichnet werden, sondern ist als eigenständiges Streben nach einem kohärenten personalistischen Ansatz zu werten. Offizielle Anerkennung erntete er dafür u.a. durch die Gründung des Jacques Maritain Center an der Notre Dame University in Indiana (USA) 1958, des Cercle d’études Jacques et Raïssa Maritain in Kolbsheim (Frankreich) 1962, des Institut International Jacques Maritain 1964 in Rom sowie durch die Verleihung des „Grand Prix de Littérature“ im Juni 1961 und des „Grand Prix National des Lettres“ 1963 seitens der Académie Française. Am 8.12.1965 durfte er mit großer Freude zum Abschluss des II. Vaticanums aus der Hand seines langjährigen Freundes Papst Paul VI. die Botschaft an die Welt der Geisteswissenschaften in Empfang nehmen. Auf seinen offiziellen Eintritt ins Noviziat der Kleinen Brüder am 1.10.1970 folgte bereits ein Jahr später die Ewige Profess, in deren Gemeinschaft der „Pilger des Absoluten“ 1973 starb.

[Bearbeiten] Maritains Thomismus

M. vertrat einen „lebendigen Thomismus“, der unvoreingenommen „mit den geistigen Anstrengungen der Moderne sympathisiert und wie der hl. Thomas über aktuelle Probleme nachdenkt“. Für ihn war der Thomismus „heute noch wie im Mittelalter aktiv, eroberungslustig und als einziger in der Lage – unter der Bedingung, dass die Integrität seiner Prinzipien erhalten bleibt –, auf die gegenwärtigen Schwierigkeiten zu antworten“. Darum M.s viel zitiertes „Weh mir, wenn ich nicht Thomas treibe!“ Ausführlich präsentierte M. sein Verständnis des Thomismus in „Le Docteur angélique“ (1930, 22-25), wo er thesenhaft u.a. darauf hinweist, dass es „eine thomistische Philosophie, aber keinen Neothomismus gibt“. Denn der Thomismus „erhebt den Anspruch, die Vernunft für die Unterscheidung von richtig und falsch zu gebrauchen. Er will das moderne Denken nicht vernichten, sondern es reinigen und alles integrieren, was seit Thomas als wahr entdeckt wurde.“ So gesehen „ist der Thomismus eine Weisheit“, denn seine Prinzipien und seine Struktur „basieren einzig auf der Erfahrung und der Vernunft“. Damit ist er zwar „von den Grundgegebenheiten des Glaubens unabhängig“, aber offen für dessen Anregungen. Bereits wenige Jahre zuvor schrieb M., dass der Thomismus „nicht die Philosophie eines Einzelnen ist oder ein System unter anderen, sondern vielmehr die beständig sich weiter entwickelnde Philosophie der Menschheit. Als Seinsphilosophie vertraut sie der Vernunft mit mehr Kühnheit als alle anderen Philosophien, steht jedoch im Dialog mit ihnen und greift deren Beiträge auf.“

Mit dieser Auffassung grenzte sich M. unweigerlich von vielen (Neo-)Thomisten ab, die mehr an einer nach innen gerichteten Systematisierung des Thomismus interessiert waren. Nach deren Verständnis entsprach der philosophia perennis ein geschlossenes System, da nur so gegenüber den Veränderungen der Moderne und deren Prinzip der Geschichtlichkeit, das alles zu relativieren schien, überzeitliche Gültigkeit garantiert werden konnte. Dazu stand M.s kreativer Ansatz in gewissem Gegensatz, da dieser zwar einen vertrauten Umgang mit den Texten des hl. Thomas voraussetzte, allerdings nicht im Sinne der Forschung, die ein Historiker betreibt. Vielmehr sollten aktuelle Fragen und Probleme im Licht des Denkens und der Prinzipien des Aquinaten betrachtet werden. Für M. war Thomas „der Apostel der Moderne; unsere Aufgabe hingegen ist es, für die neuen Materialien und Probleme die wertvollen Werkzeuge der Weisheit, die Denkmittel einzusetzen, mit denen er uns ausgerüstet hat.“ – Maritains Verständnis des Thomismus ist durchweg von großer Kreativität geprägt, so dass Étienne Gilson, trotz seiner andersartigen Thomas-Interpretation, von „begnadeten charismatischen Einsichten“ spricht. „Es gab wohl keine Frage, egal wo sie gestellt wurde, die M. nicht begriff und auf die er keine Antwort gab.“

Damit verweist Gilson auf das Phänomen, dass sich M.s Schriften mit fast sämtlichen Bereichen der Geisteswissenschaften beschäftigten: Neben den verschiedenen Disziplinen der Philosophie wie Ontologie, Epistemologie, Metaphysik, Logik, Philosophiegeschichte, Anthropologie und Ethik befasste er sich u.a. mit Fragen der Kunst, Politik, Pädagogik, Spiritualität, Theologie. Wenn es einem Schüler des hl. Thomas im 20. Jahrhundert gelungen ist, den Thomismus und seine Prinzipien über philosophisch interessierte Zirkel hinaus fruchtbar ins Gespräch zu bringen, dann ist es M. Verständlich, dass sich Papst Johannes Paul II. nicht scheute, ihn „neben die Meister der antiken Philosophie zu stellen“. Denn M. hat sich typisch neuscholastischen Katalogisierungsbemühungen erfolgreich widersetzt und in kreativer Eigenständigkeit viele offene Fragen des Thomismus beantwortet oder vorangebracht. So u.a. eine auf konnaturale Einsichten aufbauende Epistemologie; eine gleichermaßen die Essenz- wie die Existenzordnung berücksichtigende Ontologie; ein von den Kategorien Freiheit und Liebe ausgehender analoger Personbegriff; ein dynamisches Seelenmodell, das nicht nur Erkenntnisse der modernen Psychologie aufnimmt, sondern auch Anforderungen und Konsequenzen ethischen Handelns in einer modernen Anthropologie integriert.

Sein kohärenter Personalismus ermöglicht es außerdem dem späten M., das neuzeitliche Prinzip der Geschichtlichkeit nicht als Faktor einer Relativierung überzeitlicher Wahrheiten, sondern als Ausdruck menschlicher Freiheit und Verantwortung zu sehen. Der Mensch ist zu Erkenntnis und Handeln in Freiheit und Liebe geschaffen und kann zur Vermenschlichung der Welt sowie zu ihrer Vergöttlichung mit Hilfe der Gnade beitragen – ganz im Sinne eines integralen Humanismus. Diese Interaktion mit der Welt und ihren Geschöpfen beeinflusst einerseits den Lauf der Geschichte, muss aber andererseits an überzeitlichen Prinzipien gemessen werden können, die darüber entscheiden, ob das Wechselspiel der Freiheiten, das die Grundlage der Geschichte bildet, eine zu- oder abnehmende Humanisierung des Menschen und seiner Welt (Seinswachstum oder -minderung) bewirkt. Gilsons Urteil: „M. ist der einzige Thomist unserer Tage, dessen Denken sich bewahrheitet hat als hochstehend, kühn, kreativ und fähig, sich mit den drängendsten Problemen auseinander zu setzen.“

[Bearbeiten] Literatur

  • Maritain, Jacques: Die Stufen des Wissens, Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz o. J.
  • Berger, David und Vijgen, Jörgen (Hrsg.): Thomistenlexikon, Verlag nova & vetera, Bonn 2006

[Bearbeiten] Weblinks